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Literatur «Der scharlachrote Buchstabe»: Ein Meisterwerk der Psychologie

Nathaniel Hawthornes erster Roman von 1850 lebt weniger vom düsteren Plot, als von einer psychologisch raffinierten Spannung zwischen den Hauptfiguren: Eine Frau und zwei Männer fechten nicht nur einen Konflikt untereinander, sondern auch einen mit der Gesellschaft aus.

«Der scharlachrote Buchstabe» spielt im Neuengland des 17. Jahrhunderts. Die Zeit war geprägt von religiösem Fanatismus, und einige Vorfahren Nathaniel Hawthornes hatten damals in der Verfolgung der Quäker und in den Hexenprozessen eine unrühmliche Rolle gespielt. Zudem kämpfte die englische Kolonie im heutigen Massachusetts um den Aufbau einer Gesellschaft – Gewalt gegen die rechtmässigen Bewohner des Landes, die Indianer, inbegriffen.

Eine rot gekleidete Frau betritt ein einfaches Haus auf dem Land.
Legende: Das Buchcover der neu herausgegebenen Übersetzung. Verlag Carl Hanser

In diese Welt fährt Hester Prynne aus England ihrem um vieles älteren Mann, einem Gelehrten, nach Boston voraus und bekommt ein Kind von einem anderen Mann. Den Namen des Kindsvaters verschweigt sie hartnäckig. Im realen Amerika des 17. Jahrhunderts wäre sie wohl öffentlich ausgepeitscht oder gar gehängt worden. In Hawthornes Roman wird sie «nur» mit ihrem Baby inhaftiert, dann an den Pranger gestellt und gezwungen, lebenslang den Buchstaben «A» für «Adulteress» auf der Brust zu tragen.

Tiefenpsychologische Analysen

In Sachen Plot legt Hawthorne seine Karten schnell auf den Tisch. Hesters Mann ist nicht bei einem Schiffbruch ums Leben gekommen, wie gemeinhin angenommen, sondern ist unter falscher Identität nun auch in Boston. Er nimmt seiner Frau das Versprechen ab, ihn nicht zu verraten. Unerkannt will er sich auf die Suche nach dem Ehebrecher machen, um sich zu rächen. Als Arzt Roger Chillingworth kümmert er sich ausgerechnet um den gesundheitlich schwer angeschlagenen Pfarrer Arthur Dimmesdale, den Vater von Hesters Tochter.

In diesem Setting untersucht Hawthorne feinste Gefühlsnuancen seiner Figuren und gelangt dabei zu noch immer aktuellen tiefenpsychologischen Einsichten. Er zeigt auf, wie irrational eine Wut sein kann wie jene des betrogenen Ehemanns Chilligworth – auch wenn sie gesellschaftlich akzeptiert ist. Er seziert die Schuldgefühle des Kindsvaters Dimmesdale in den Bereichen, wo sie nichts weiter als Feigheit sind. Und er lässt Hester nach langen Kämpfen begreifen, dass sie selbst als Ausgestossene Handlungsspielräume hat.

Weiträumiges Denken

Hester, von Ehemann und Geliebtem gleichermassen im Stich gelassen, geächtete alleinerziehende Mutter, gewinnt schliesslich so viel innere Freiheit, dass sie dem Patt zwischen den beiden Männern ein Ende bereitet. Sie hat sich in sieben Jahren gesellschaftlichen Aussenseitertums «ein solch weiträumiges Denken angewöhnt», dass sie dem Pfarrer eine gemeinsame Flucht nach England vorschlägt – und einen Neuanfang:

Literaturhinweis

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Nathaniel Hawthorne: «Der scharlachrote Buchstabe». Neu übersetzt von Jürgen Brôcan, Hanser 2014.

«Lass dieses Wrack und diese Trümmer hier, wo sie entstanden sind. Befasse dich nicht mehr damit. Beginne ganz von neuem! Hast du die Möglichkeiten mit dem Scheitern dieser einen Prüfung ausgeschöpft? (…) Warum zögerst du noch einen weiteren Tag in den Qualen, die so sehr an deinem Leben genagt haben! – die dich im Wollen und Handeln geschwächt haben! – die dich sogar für die Busse zu schlaff gemacht haben! Steh auf und geh!»

Neuübersetzung mit reichem Anmerkungsapparat

Wie modern «Der scharlachrote Buchstabe» auch in seinen gesellschaftlichen Analysen ist, untermauert der reiche Anmerkungsapparat. Jürgen Brôcan hat ihn für seine Neuübersetzung dieses Meilensteins der amerikanischen Literatur zusammengetragen. In Auszügen lassen sich etwa die historischen Recherchen nachlesen, die Hawthorne für seinen Roman unternahm. In der kritischen Auseinandersetzung mit dem religiösen Fundamentalismus seiner Vorfahren, im Hinterfragen des Umgangs mit den Ureinwohnern und der vielen Kriege, die zur Konsolidierung des noch jungen Staates geführt wurden, betrieb der Schriftsteller Vergangenheitsbewältigung, bevor dieses Wort überhaupt existierte.

Auch immer noch aktuell: die Frage nach der Rolle der Frau in der Gesellschaft, dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern, dem Zusammenspiel zwischen Gemeinschaft und Individuum, der Balance zwischen staatlichen Vorgaben und persönlicher Freiheit.

Und vielleicht besonders interessant: die Frage nach äusserem Schein und innerer Wahrheit. Bis heute spielen «public shaming» und «public confession» in der amerikanischen Gesellschaft eine wichtige Rolle, man denke nur an die Clinton-Lewinsky-Affäre. «Reuevolle Selbsterniedrigung» verlangten die Puritaner von Hester Prynne. Sie machte die Farce von der gespielten Zerknirschung nicht mit, stand zu ihrem «Vergehen» und trug den scharlachroten Buchstaben mit Stolz.

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