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Literatur Don DeLillos «Null K»: Ein eiskalter Roman mit Sprengkraft

Der Traum vom ewigen Leben ist uralt – wie es der Traum vom Fliegen war. Werden wir einst so selbstverständlich ewig leben, wie wir heute fliegen? Das vorbereitende Verfahren dazu gibt es jedenfalls schon: Die Kryonik. Ihr widmet US-Autor Don DeLillo seinen 17. Roman.

Menschen einfrieren, um sie in ferner Zukunft wiederbeleben zu können? Klingt nach Science Fiction. Die ist nicht Don DeLillos Sache. Dazu ist der bald 80- Jährige viel zu nüchtern.

Buchhinweis

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Don DeLillo: «Null K», Kiepenheuer&Witsch Verlag, 2016.

Auch sind die Visionen der Kryonik ein Stück realer geworden, seit Leute wie Paypal-Milliardär Peter Thiel und Hedgefonds-Manager Joon Yun in grossem Stil in die humane Kältekonservierung investieren.

Gesellschaftliche und politische Fragen

Kryonische Verfahren kommen bereits heute in der Spitzenmedizin zum Einsatz: Künstlich gezeugte Embryos werden tiefgefroren, Patienten während komplexer Operationen heruntergekühlt.

Kryonik ist aber nicht nur eine Sache der Machbarkeit, sondern auch eine von ethischen, gesellschaftlichen und politischen Fragen – Don DeLillos Terrain seit «Americana», seinem ersten Roman von 1971.

Alle Bücher DeLillos erzählen vom enormen Gefälle in der Welt. Und sie sind oft visionär. «Mao II» von 1991 zum Beispiel sezierte zehn Jahre vor 9/11 Beweggründe und Zeichensysteme des Terrorismus. «Libra» von 1988 über das Kennedy-Attentat bleibt in seiner Einschätzung des amerikanischen Politsystems brisant.

Unerreichbare Messgrösse

Kryonisierte Menschen werden bei minus 196 Grad Celsius aufbewahrt. «Null K» steht für 0 Grad Kelvin – eine deutlich tiefere Temperatur. Sie bezeichnet den absoluten Nullpunkt und ist eine unerreichbare Messgrösse.

«Null K» erzählt davon. Vom Erreichbaren und Unerreichbaren, verflochten mit Krisen, die weit über das Persönliche hinausgehen.

So steht das Zentrum, in dem ein Sohn Zeuge wird, wie sich erst die Stiefmutter und dann der Vater kryonisieren lassen, im Dunstkreis von Tscheljabinsk. Bis 1951 war dort ein Gulag. 1957 kam es zu einem Atomunfall, so verheerend wie Tschernobyl. 2013 schlug ein Meteor ein und hätte die Stadt um ein Haar zerstört.

Verstand und Glauben

Solches Wissen hat Sohn Jeffrey im Hinterkopf, wenn er mit Stiefmutter Artis und Vater Ross diskutiert. Es verschärft sein Befremden über den Entschluss der beiden. Für ihn ist es Suizid. Sein Verstand scheitert am Glauben an die Wiedererweckung. Zudem: Wiedererweckung in welche Welt, wenn sie schon heute am Rand des Abgrunds steht?

Vater und Sohn hatten lange Jahre kaum miteinander zu tun. Jeffrey war noch ein Junge, als Ross ihn verliess. Seither verharrt er im Zustand selbstgewählter Ziellosigkeit. Ross mit seinen Milliarden hingegen ist so sehr Selfmademan, dass er sogar seinen Namen änderte: vom schlappen Nicolas Satterswaite zum entschlossenen Ross Lockhart.

Kryonik-Zentrum als Spiegel

Seiner um vieles jüngeren zweiten Frau hilft weder Entschlossenheit noch Geld. Artis leidet an multipler Sklerose im Endstadium, als Jeffrey auf klandestinen Wegen nach Kasachstan geflogen wird. Zwei Jahre später steht auch der Abschied vom Vater an: Ohne Artis will Ross nicht mehr leben.

Audio
Don DeLillos «Null K»
aus Kultur kompakt vom 01.11.2016.
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 53 Sekunden.

Das Kryonik-Zentrum in der kasachischen Steppe ist Kunstwerk, Hightech-Tempel und Bunker zugleich. Architektur und Abläufe fungieren in vielerlei Weise als Spiegel - auch der Beziehung zwischen Vater und Sohn.

Und wie im Brennglas erscheinen die physischen, psychischen, intellektuellen und gesellschaftlichen Positionen, die Ross und Jeffrey verkörpern.

Aktueller denn je

«Null K» ist der Bericht eines Hinterbliebenen – staubtrocken, mit ätzendem Witz und ganz viel Sprengkraft. Nur schon im ersten Satz. Sagt Ross zu Jeffrey: «Everybody wants to own the end of the world.»

Das Ende der Welt besitzen? Eine Aussage, die Fragen in alle Richtungen eröffnet. Don DeLillo hat keine Antworten, aber seine Denkanstösse sind aktueller denn je.

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