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Édouard Louis' neues Buch Scham verbreiten auf 80 Seiten

Mehr Kampf als Literatur: Édouard Louis spricht in seinem dritten Buch «Wer hat meinen Vater umgebracht» die Regierenden schuldig.

In Édouard Louis‘ gefeiertem autobiografischem Roman «Das Ende von Eddy» (2015) haben wir eine Welt kennengelernt, die geprägt ist von Armut, Homophobie und einem unangefochtenen Patriarchat.

Der Vater trinkt und schweigt. Und nur, weil er selbst von seinem Vater geprügelt wurde, hat er sich geschworen, die Hand nicht gegen seine eigene Familie zu erheben. «Die Gewalt hat uns vor der Gewalt bewahrt», so formuliert es Édouard Louis in seinem neuen Buch, das eine Ergänzung zu seinem Debüt darstellt.

Versuch zu verstehen

Viele Passagen von «Wer hat meinen Vater umgebracht» kennt man daher bereits aus dem Kindheitsroman «Das Ende von Eddy». Dort war der Ton geprägt von der Auflehnung gegen das Dorf und die eigene Familie. Gegen eine Welt, die den Heranwachsenden wegen seiner Homosexualität drangsalierte.

«Wer hat meinen Vater umgebracht» ist ein Brief an den Vater, doch geht es nicht um eine Abrechnung. Édouard Louis unternimmt vielmehr den Versuch, den Vater zu verstehen, den er als Kind so gehasst hatte.

Zugleich ist der kurze Text ein donnerndes «J’accuse»: «Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat», schreibt ihm der Sohn.

Denn: «Für die Herrschenden ist Politik weitgehend eine ästhetische Frage. Für uns ist sie eine Frage von Leben und Tod.» Nach einem Arbeitsunfall ist der Vater mit fünfzig Jahren ein körperliches Wrack.

Édouard Louis klagt Politiker an, die beschlossen haben, dass die Kosten für manche Medikamente nicht mehr übernommen werden und deren Politik seinen Vater dazu zwingt, trotz seiner prekären Gesundheit eine Arbeit als Strassenkehrer anzunehmen.

Frankreich ist marode

Édouard Louis nennt die Politiker mit Namen, die er für die Misere verantwortlich macht – Sarkozy, Hollande, Macron sind darunter nur die bekanntesten. Doch er erkennt einen weiteren Unterdrückungsmechanismus in der gepanzerten Männlichkeit des dörflichen Milieus.

Schule etwa gilt als unmännlich. Somit versperrt der Männlichkeitskult den Weg aus der Armut. Die Gewalt so alltäglich, dass sie nicht mehr wahrgenommen wird: «Die Brutalität war für dich keine Brutalität, sondern das Leben.»

Keine Selbstkritik

In einem Familienalbum entdeckt der Sohn Fotos, die seinen Vater auf einer Party als Frau verkleidet zeigen. Seine Mutter erzählt ihm, was für ein guter Tänzer der Vater als junger Mann gewesen sei – doch dafür war kein Platz: «Dein Leben hast du nicht leben können, du hast neben deinem Leben hergelebt.»

Schuld an dieser Selbstbegrenzung ist wahlweise «das Leben», «die Welt» oder «die Gesellschaft». Die Betroffenen selbst jedoch haben in Louis‘ Argumentation keine Verantwortung für ihr Schicksal.

Buchhinweis

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Édouard Louis: «Wer hat meinen Vater umgebracht». Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Verlag S. Fischer, 2019.

Analytisch greift der Essay damit zu kurz, und auch als Literatur erreicht dieser 80-Seiten-Text längst nicht die Wirkung von «Das Ende von Eddy». Dort hatten wir zu spüren bekommen, was es heisst, zur Unterschicht zu gehören. In diesem Text jedoch wird es uns nur erklärt.

Jetzt sei nicht die Zeit für fiktionale Literatur, sagt Édouard Louis in Interviews. Er wolle eine «konfrontative» Literatur schaffen und Scham erzeugen. Doch gerade dafür bedarf es literarischer Mittel, die uns miterleben lassen, worüber wir uns empören sollen.

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