«Josef Mengele ist der Fürst der europäischen Finsternis. Der stolze Arzt hat Kinder seziert, gefoltert und verbrannt. Der Musterangestellte der Todesfabriken, glaubte seiner Strafe zu entkommen. Jetzt beginnt Mengeles Höllenfahrt.»
So schreibt Olivier Guez über Josef Mengele, den Lagerarzt des Konzentrationslagers Auschwitz.
Guez ist ein sprachgewaltiger Autor – kräftig, ausdrucksstark, atemberaubend. Sein aktueller Roman über Josef Mengele ist in Frankreich zu einem Bestseller geworden und hat einen der höchsten Literaturpreise des Landes erhalten, den Prix Renaudot.
Um Auschwitz geht es nur am Rand
Dieser Erfolg erstaunt nicht, wenn man das Buch liest, das nun in der deutschen Übersetzung von Nicola Denis vorliegt: Der Roman fesselt, macht betroffen, verstört. Eine seiner Stärken ist es, dass es darauf verzichtet, an all die bekannten Gräueltaten Mengeles in Auschwitz schöne literarische Sätze zu verschwenden.
Mengeles abscheuliches Gebaren an der Rampe in Auschwitz, seine pseudomedizinischen Versuche an Häftlingen, seine monströse Zwillingsforschung – all dies taucht im Roman nur am Rand auf. Im Zentrum steht die Zeit danach: das Leben im Exil in Südamerika.
Die goldene Zeit der geflohenen Nazis
Mengele ist wie viele andere Alt-Nazis nach Argentinien geflohen. Unter dem damaligen Diktator Perron waren die Kriegsverbrecher gerne gesehene Gäste. Das Regime verspricht sich von ihnen Vorteile für die argentinische Wirtschaft.
Mengele suhlt sich im Glück, «denn er hat die Freiheit, Geld und Erfolg, niemand hat ihn verhaftet, und niemand wird es je tun». Doch die Freude ist verfrüht: 1960 kommt die Wende, und aus Mengele, dem «Pascha» wird – wie es im Roman heisst – Mengele, die «Ratte».
In jenem Jahr schnappen israelische Mossad-Agenten Adolf Eichmann, jenen wichtigen Mitorganisator des Holocaust. Er habe nur Befehle ausgeführt, wird Eichmann in Israel vor Gericht aussagen – und dennoch am Strang landen.
Die Verhaftung und Entführung Eichmanns schlägt in der Nazi-Gemeinde in Argentinien ein wie eine Bombe: Wenn es Eichmann treffen kann, dann jeden!
Der Gejagte
Auch Mengele. Er flieht nach Paraguay, nach Brasilien. Versteckt sich auf abgelegenen Farmen, über Jahre. Dann in einem heruntergekommenen Vorort von São Paulo.
Und die permanente Angst verzehrt den Sohn aus gutbürgerlichem Haus, der weder Soldat noch Abenteurer ist. Er traut sich nicht mehr unter die Menschen. Er hasst alle und alles: die deutsche Nachkriegspolitik, Israel, die Juden, die linke Presse, die Mitmenschen.
Das Leben wird ihm zur Hölle, er wird krank, bitter. Aber geschnappt wird er nie: Er ist für die Nazijäger kein prioritäres Ziel.
Das Böse wird fassbar
Olivier Guez hat für den Roman intensiv recherchiert. Er hat viel gelesen, und er hat die Orte, wo Mengele war, besucht, in Deutschland und in Südamerika. Entstanden ist ein Tatsachenroman im Stil von Truman Capotes «In Cold Blood».
Nach der Lektüre weiss man, was man schon immer wusste: Mengele war menschlicher Abschaum. Aber man weiss es anders als vorher. Das Böse wird in diesem Roman fassbar. Am meisten in Mengeles Unfähigkeit, nur ein bisschen Reue zu zeigen.
Oder Mitleid für die Juden, die er zu Hunderttausenden in den Tod geschickt hat. Das lehnt er ab: «Mitleid ist keine gültige Kategorie, weil die Juden nicht der Menschheit angehören.»
Ein Tod, der Freude macht
Olivier Guez’ Roman ist nicht frei von Risiken: Der Autor geht so nahe an seinen Protagonisten heran, dass er seine Unmenschlichkeit zu verlieren droht. Man ist in Mengeles Kopf, in seinem Denken, man erfährt gar seine Träume. Da wird die Bestie zum Du, ein Bisschen zumindest. Darf dies sein?
Ja, denn auch wenn bei der Lektüre hin und wieder mit Mengele Empathie aufflammen sollte, sie bleibt gering. Die Distanz überwiegt. Und als Mengele 1979 beim Schwimmen einen Schlaganfall erleidet und jämmerlich ertrinkt, «schlagen die Möwen mit den Flügeln und kreisen freudekreischend über ihm».
Es rührt sich auch beim Lesenden kein Mitleid. Im Gegenteil: Es ist ein Tod, der Freude macht.