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Jungenbilder in Büchern «Es braucht starke Jungs, die sich mit Mädchen gut verstehen»

Mädchen in Kinderbüchern werden vermehrt stark und mutig dargestellt. Aber wo bleiben gelungene Vorbilder für Jungs?

Jungs, die sich fürchten und weinen, Kerle, die pöbeln und über Mädchen herziehen: Wer heute zu einem deutschsprachigen Kinder- oder Jugendbuch greift, begegnet zwei Typen von Jungen.

Dem sensiblen, zweifelnden und einsamen Jungen. Und dem selbstsicheren und starken Jungen: Er ist heldenhaft und witzig, doch leider umgeben von zickigen Mädchen und doofen Müttern.

Beide Rollen taugen nicht als Identifikationsfiguren, sagt Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Eggenberger vom Schweizerischen Institut für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM).

«Der sensible Junge ist meist auch der schwache Junge, der keine Lösungen findet, wie er mit seinem Leben umgehen soll», sagt Eggenberger. «Das ist nicht unbedingt der Typ, mit dem sich ein lesendes Kind identifizieren möchte.»

Brechen mit Klischees

Als Reaktion darauf kam der archaische, heldenhafte Junge in die Kinderbücher. Das sei ein klarer Rückgriff auf alte Rollenmuster, die nicht wünschenswert seien.

«Spannung, Action, Humor und ein differenzierteres Jungenbild sollen sich gegenseitig nicht ausschliessen», konstatiert Eggenberger.

Ein Bub im Klassenzimmer. Er stützt seinen Kopf in seinen Händen.
Legende: Zum verzweifeln: Die Jugedliteratur kennt vor allem zwei Typen von Jungen, den weinenden und den pöbelnden. Keystone / GAETAN BALLY

Die 1968er-Bewegung hat die herkömmlichen Rollenklischees vom angepassten Mädchen und abenteuerlichen Jungen zwar aufgebrochen.

Doch während die Mädchenfiguren seither vermehrt schlau, selbstbewusst und tatkräftig sind, hat sich der gefühlige, zweifelnde Junge nicht etablieren können.

Darin spiegelt sich ein grundsätzliches Problem der westlichen Gesellschaft: Dem differenzierten Weiblichkeitsbild wurde viel Aufmerksamkeit zuteil, das Männlichkeitsbild hinke dieser Entwicklung hinterher, sagt Eggenberger.

Neues Vater- und Mutterbild

Die Kinder- und Jugendliteratur nimmt Entwicklungen der Gesellschaft als eines der ersten Medien auf. Sie funktioniert wie ein Seismograf. So haben heute zum Beispiel vermehrt Themen wie Transgender, Homosexualität, aber auch Patchwork- und Regenbogenfamilien Eingang in Kinder- und Jugendliteratur gehalten.

«Man möchte den Kindern jeweils erklären, was in der Welt passiert», erklärt die Literaturwissenschaftlerin, «und das fliesst dann direkt in die Kinderliteratur».

Dadurch hat sich das Väter- und Mütterbild in der Kinder- und Jugendliteratur verändert. Gelungene Beispiele gibt es zwar, insgesamt sind die Väter im Kinderalltag präsenter geworden. Doch noch immer sind es vor allem Mütter, die in den Geschichten die erste Ansprechperson des Nachwuchses sind.

Fähige und feinfühlige Figuren

Hier sieht die Expertin Bedarf an neuen Rollenypen. «Wir brauchen Jungen- und Männerfiguren, denen Dinge gelingen dürfen, die aber trotzdem fähig sind, Gefühle zu zeigen», sagt Eggenberger.

«Es braucht Väter, die sich engagieren und mit ihren Söhnen sprechen. Jungen, die Freundschaften mit Mädchen pflegen. Und dies in Geschichten, die spannend und witzig sind und die Jungs als Leser begeistern können.»

Die Autorinnen, Illustratoren, Verlegerinnen und Lektoren haben also noch einiges zu tun, bis den Kindern und Jugendlichen in ihren Büchern überzeugende Identifikationsfiguren und Lebensentwürfe begegnen.

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