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Lesen mit Jean Ziegler «In der Einsamkeit könnte ich nicht lesen»

«Literaturclub»-Gastkritiker Jean Ziegler kann Gedichte auswendig, wirft aber auch mal ein Buch weg. Im Gespräch erklärt er, wo er am liebsten liest und was ihn persönlich beschäftigt.

Jean Ziegler

Soziologe und Autor

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Jean Ziegler (geboren 1934 als Hans Ziegler in Thun) ist Soziologe und Autor. Er ist einer der bekanntesten Globalisierungskritiker und hat verschiedene Sachbücher über Kapitalismus und Hunger verfasst. Ziegler ist Mitglied im Menschenrechtsrat der UNO.

SRF: Was bedeuten Bücher für Sie?

Jean Ziegler: Das Buch ist der Atem der Seele. Man wird auf eine Weise mit sich selbst konfrontiert, die weit über die analytische Vernunft hinausgeht. Ich kenne das halbe Werk von Rainer Maria Rilke auswendig.

Wenn ich Angst habe vor dem Tod, sage ich mir ein Gedicht von ihm auf. Die Literatur ist sehr wichtig.

Ihr liebstes Buch?

«Les Misérables» von Victor Hugo: Ein Buch, das mich sehr bewegt hat und das mich begleitet – auch häufig nach New York und auf Mission. Da steht eigentlich alles drin, was mich bewegt.

Haben Sie einen bevorzugten Leseort? Wann lesen Sie?

Im Flugzeug, im Zug und hin und wieder im Café. Am liebsten in «Charles’ Coffee House» im Greenwich Village in New York. Es braucht Leben rundherum, damit man lesen kann, glaube ich. In der Einsamkeit könnte ich nicht lesen. Merkwürdig: Das Gegenteil sollte doch wahr sein.

Lesen Sie mehrere Bücher gleichzeitig oder immer eins nach dem anderen?

Ich muss ja oft die Exekutivreports der verschiedenen UNO-Büros in Syrien oder Jemen lesen. Aber immer, wenn ich dazu komme, lese ich parallel Romane und Gedichte: Sachen, die mit der Existenz zu tun haben, die mich im persönlichen Sinne beschäftigen.

Ein Buch, das Ihnen die Liebe zum Lesen eröffnet hat.

Ich bin in einer Familie aufgewachsen, in der viel gelesen wurde. Es sind vor allem die Gedichte und Prosastücke von Baudelaire, die mir eine Welt erschlossen haben, die jenseits der Vernunft steht. Die Welt, die man nur durch die Augen der Poeten entdecken kann.

Ein Buch, bei dem Sie laut lachen mussten?

Die Zeichenbücher von Honoré Daumier zum Beispiel. Daumier ist ein unglaublich gesellschaftskritischer französischer Zeichner, der die Richter und vornehmen Persönlichkeiten entlarvend gezeichnet hat.

Ein Buch, das Sie niemals beenden?

Wenn ein Buch mich nicht von Anfang an gefangen nimmt, dann lege ich es weg. Ich werfe auch Bücher weg. Das kommt aber relativ selten vor. Aber wenn ein Buch schädlich ist …

Ein Buch, das Sie gerne verschenken?

Meinem Enkel habe ich grade vorgestern «Les Misérables» geschickt.

Ein Buch, das Sie gerne Kindern vorlesen.

«Babar der Elefant». Und gerade habe ich selbst auf Französisch ein Buch herausgegeben. Übersetzt heisst es: «Der Kapitalismus, meiner Enkelin erklärt – in der Hoffnung, sie sehe sein Ende». Es ist ein fiktives Dialogbuch, das in Frankreich sehr gut läuft. Das würde ich meinem 15-jährigen Enkel vorlesen.

Ein Buch, dem Sie mehr Leser wünschen?

Viele Bücher. Der Nahkampf um Aufmerksamkeit ist unglaublich. Da gehen viele Bücher und unveröffentlichte Manuskripte einfach unter.

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