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Literaturnobelpreis 2018 Olga Tokarczuk – Erzählen um des Erzählens Willen

Der Literaturnobelpreis 2018 geht nachträglich an die polnische Autorin Olga Tokarczuk. Und damit an eine einzigartige Erzählerin.

Nein, Olga Tokarczuk ist keine Dissidentin. Keine Vertreterin jener Generation regimekritischer Autorinnen und Autoren Mittel- und Osteuropas, die jetzt, dreissig Jahren nach dem Ende der kommunistischen Diktaturen, endlich mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird.

Olga Tokarczuk ist jünger. Sie ist – auch wenn sie 1989 schon 27 Jahre alt war – ein heutiges Phänomen. Eine aktuelle mitteleuropäische Erzählerin.

Weshalb wird der Nobelpreis von 2018 erst jetzt verkündet?

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Im vergangenen Jahr war die Vergabe des Literaturnobelpreises ausgefallen – wegen eines Skandals bei der Schwedischen Akademie . Mehrere Frauen hatten dem Ehemann eines Akademiemitglieds sexuelle Übergriffe und Belästigung vorgeworfen.

Aus Protest legten weitere Mitglieder der 18-köpfigen Jury ihre Arbeit nieder, nur 10 Personen blieben übrig. Der Literaturnobelpreis 2018 wurde daher auf dieses Jahr verschoben.

Was allerdings nicht heisst, dass sie nicht politisch ist. Im Gegenteil. Wann immer nötig kritisiert sie öffentlich Putins Hegemonialanspruch auf Polen und die lasche, kompromissbereite westeuropäische Haltung dazu.

Trotzdem: Olga Tokarczuk ist keine wirklich politische Schriftstellerin. Sie ist vor allem eine Erzählerin. Eine Erzählerin, der es ums Erzählen geht.

Eine Frau mit dunklen Haaren.
Legende: Ein Jahr verzögert erhält sie den Literaturnobelpreis 2018: die polnische Autorin Olga Tokarczuk. Getty Images / David Levenson

So erfindet sie Märchen, weil sie sich gerne welche erzählt. Dabei kennt sie keine Grenzen. Sie lässt Figuren Geschichten erzählen oder träumen, lässt Figuren von Figuren träumen, die wiederum Geschichten erzählen. Und so weiter. Wild und ungestüm geht es zu. Ganz anders als bei vielen postmodernen Zeitgenossen.

Von der Psychologin zur Autorin

Olga Tokarczuks «Heimat» ist die Psychologie. Sie ist eine von C.G. Jung inspirierte Psychologin, die zusammen mit ihrem Mann – auch er ein Psychologe – einen kleinen Verlag betreibt.

Ihre Familie stammt aus Lemberg und kommt nach dem Zweiten Weltkrieg nach Schlesien. Dort wird Olga Tokarczuk 1962 geboren, durchläuft die Schulen und entschliesst sich für ein Psychologiestudium in Warschau.

Nach einigen Jahren als Therapeutin verhaltensauffälliger Jugendlicher in der Provinz kehrt sie zurück in ihre schlesische Heimat und beginnt zu schreiben. Heute lebt sie in einem kleinen sudetischen Dorf nahe der tschechischen Grenze.

Durchbruch mit einer Parabel

Olga Tokarczuks literarische Laufbahn beginnt 1989. Mit «Städte im Spiegel» erscheint ein erster Gedichtband. Vier Jahre später folgt dann das Romandebüt: «Reise der Buchmenschen» ist einer Parabel über die Suche zweier Liebenden nach dem «Geheimnis des Buches» – was wiederum eine Metapher für die Bedeutung des Lebens ist. Damit schafft sie den nationalen und bald auch den internationalen Durchbruch.

Seither erscheinen regelmässig Romane, Erzählbände und Essays. Zuletzt der Roman «Die Jakobsbücher», der gerade beim Zürcher Kampa-Verlag auf Deutsch herauskommt.

Grosses Erzähltalent

Und so ist Olga Tokarczuk aus der polnischen Provinz im Verlauf der Jahre still und heimlich eine vielfach ausgezeichnete Literatin internationalen Renommees geworden. Zuletzt erhielt sie für ihren Roman «Unrast» den Man Booker International Prize des Jahres 2018.

Und jetzt also der Nobelpreis. Die Schwedische Akademie zeichnet damit neben dem «Enfant terrible» Peter Handke eine Autorin mit grossem Erzähltalent aus, die einem Kulturraum stammt, der sich immer wieder gegen seine Nachbarn behaupten muss.

Die Polen wird’s freuen. Die passionierten Leserinnen und Leser der ganzen Welt allerdings auch.

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