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Roman «Wie später ihre Kinder» Randfiguren im Scheinwerferlicht

Mit seinem Roman «Wie später ihre Kinder» gewann der Franzose Nicolas Mathieu im letzten Jahr den Prix Goncourt. Das Buch spielt in den 1990ern, ist aber verblüffend aktuell.

Als «Wie später ihre Kinder» 2018 in Frankreich erschien, wurde es als «das Buch der Stunde» gehandelt. Das Buch fiel mitten in die Aktionen der «Gilets Jaunes» und schien vieles zu erklären, obwohl es in den 1990er-Jahren spielt.

Der Roman zeigt den Frust und die Perspektivlosigkeit vieler Menschen in Frankreich, die in der Provinz leben und sich abgehängt fühlen, ohne die Proteste der Gelbwesten oder den Aufstieg des Populismus explizit ins Zentrum zu stellen. Das alles ist mehr Hintergrundrauschen.

Buchhinweis

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Nicolas Mathieu: «Wie später ihre Kinder», Hanser Berlin, 2019.

Neulich in der Kleinstadt

«Wie später ihre Kinder» spielt in einer fiktiven Kleinstadt im Nordosten Frankreichs und erzählt die Geschichte von drei Jugendlichen: Anthony, Hacine und Steph.

Anthony ist der Sohn eines alkoholkranken Vaters und einer Mutter, die nach der Scheidung auch noch ihren Job verliert.

Hacine, Sohn eines marokkanischen Einwanderers, fängt seine «Karriere» als Drogendealer und Kleinkrimineller an und versinkt am Schluss in einer unglücklichen Ehe.

Anthonys grosse Flamme Stephanie wiederum kommt aus bürgerlichen Verhältnissen, geht später an eine Elite-Uni in Paris und schafft den Schritt raus aus der Provinz.

Ein Mann mit markanter Brille hält strahlend zwei Bücher in die Kamera.
Legende: Stellt in «Wie später ihre Kinder» die Schwachen ins Zentrum: Schriftsteller Nicolas Mathieu. Keystone

Zeitreise in die Neunziger

Mathieu schildert in Zweijahressprüngen zwischen 1992 und 1998, wie sich das Leben der drei entwickelt. Wir begegnen ihnen immer am gleichen Tag, am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli.

Gleichzeitig zeigen diese Momentaufnahmen das Kolorit jener Jahre. Man begegnet beispielweise der Weltmeisterschaft in Frankreich, der Musik aus jener Zeit wie Nirvana oder R.E.M. oder auch den Marken, die damals «in» waren. Zugleich altert der Lesende mit den Jugendlichen mit – die drei wachsen einem beim Lesen immer mehr ans Herz.

Die Macht des Milieus

Dieses Gesellschaftsporträt aus der französischen Provinz macht sichtbar, wie schwer es ist, aus dem Milieu auszubrechen, in das man hineingeboren wurde. Chancengleichheit, Integration und soziale Mobilität bleiben reine Wunschträume.

Es geht um die Verlierer, um die Ausgestossenen, um die, die von Anfang an keine Perspektive haben im Leben, weil sie in ihrem Milieu gefangen sind. Bis auf Steph, die quasi der Gegenentwurf zu Anthony und Hacine ist.

Starke Sprache

Dabei ist es ungeheuer realistisch, fast filmisch geschrieben, sprachlich literarisch, scharfzüngig, mit tollen Bildern. Einmal heisst es über Hacine, als der sich sein aussichtloses Leben vor Augen führt: «Das 17-jährige Herz in Hacines Brust hatte sich in Stacheldraht verfangen.»

Oder an anderer Stelle über einen Mann, «er sei wie einer dieser durchtriebenen Kerle, die sich an junge Mädchen ranmachen, um über die ersten kahlen Stellen am Kopf hinwegzukommen.»

Eribon lässt grüssen

Thematisch ist das Buch vergleichbar mit anderen Büchern, die in Frankreich in den letzten Jahren Furore gemacht haben: Didier Eribon beispielsweise mit seinem Buch «Rückkehr aus Reims», Edouard Louis oder Annie Ernaux – bloss ist dieses Buch ein ganz klassischer Roman.

Autobiographisch ist es nur insofern, als dass Nicolas Mathieu weiss, wovon er spricht: Er kommt aus einer Kleinstadt und einfachen Verhältnissen. In «Wie später ihre Kinder» hat er sich aber vollkommen von seinem eigenen Schicksal gelöst und einen richtig guten Gesellschaftsroman hingelegt – einen richtigen Pageturner.

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