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«Scham» von Inès Bayard Warum schweigt sie?

Im Roman «Scham» schildert die Französin Inès Bayard Mord als Folge von Gewalt und Schweigen: eine Frau als Opfer und als Täterin.

Ein Pariser Ehepaar in den besten Jahren, Anfang 30: Er startet gerade als Jurist durch, sie ist Vermögensberaterin in einer Bank. Und sie, Marie, wird eines Tages von einem Vorgesetzten vergewaltigt.

Sie schläft kurz danach mit ihrem Mann, wird schwanger und ist der tiefen Überzeugung, dass ihr Kind vom Vergewaltiger stammt. Aber sie bringt es nicht fertig, irgendjemandem auch nur ein Wort von dem zu sagen, was sie erfahren hat.

Vaterschaftstest mit Folgen

Stattdessen geht sie durch eine Hölle. Sie wird krank, halb verrückt, versucht eine Abtreibung, versucht zweimal, das Kind umzubringen. Sie verwahrlost, vernachlässigt ihr Kind. Ihre Ehe gerät in die Krise, ihre Sexualität ist kaputt.

Als ihr Mann endlich ahnt, dass etwas nicht stimmen könnte – er denkt an Untreue – veranlasst er einen Vaterschaftstest, von dem Marie erfährt, noch bevor die Resultate vorliegen.

Sie geht davon aus, dass ihr Mann sie verlassen wird und schreitet zur Tat: Marie vergiftet ihr Kind, ihren Mann und sich selbst.

So kam «Scham» in Frankreich an

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«Le Malheur du bas», so der französische Titel des Romans, war die Sensation der «rentrée littéraire» 2018 und landete auf der Longlist des Prix Goncourt.

Die professionelle Kritik feierte die Radikalität der Erzählung und die Wildheit der Sprache. Unter Leser*innen war aber auch der Vorwurf zu hören, der Roman sei «anti féministe» .

Inès Bayard erzählte in einem Interview, dass ihrer Erfahrung nach die Szene, in der Marie sich selbst vernachlässigt, die Lesenden am meisten schockiert habe.

Der Roman beginnt mit der Mordtat. Wir sehen Marie also von Anfang an als Opfer und als Henkerin. Wir erleben in schockierender Deutlichkeit, was sich in ihrem Körper während und nach der Vergewaltigung abspielt. Inès Bayards Sprache ist, auch in der deutschen Übersetzung von Theresa Benkert, von unerhörter Körperlichkeit.

Das Ende als Anfang

Hauptthema des Romans ist aber die Frage: Warum schweigt sie? Sie schweigt, allgemein gesagt, weil sie in einer Welt lebt, in der das Böse und das Unglück tabuisiert sind. Die Menschen benehmen sich, als seien sie Teil eines Werbefilms.

Vom «giftigen Glück» des Pariser Mittelstands ist die Rede. Zuversicht ist angesagt. Man hat das Leben im Griff. Der Wohlstand bietet unendlich viele Zerstreuungsmöglichkeiten. Alle arbeiten ständig viel zu viel und haben schon deswegen keine Zeit für Aufmerksamkeit untereinander.

Manchmal erscheint Marie «das Unglück des Unterleibs wie die Rache des Schicksals an einem augenscheinlich zu einfachen Leben».

Buchhinweis

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Inès Bayard: «Scham», Zsolnay, 2020.

Ein behütetes Kind

Scham-, Schuld- und Frustrationsgefühle kommen hinzu: Die Scham der Periode, die Scham über ihren Körper also. Der Vorwurf einer heimlichen Mitschuld an der Gewalt. Die Frustration über die Oberflächlichkeit des männlichen Sex.

Sie stellt fest, dass die Dusche sie eigentlich mehr befriedigt als das Penetrieren. Marie empfindet ganz tief im Inneren ihres Elends sogar eine gewisse Faszination für die offene Gewalt des Aggressors.

Und dann: die Angst vor dem Verlassenwerden und dem Verlust der Sicherheit. Der fehlende Mut eines Mädchens, das seit seiner Kindheit nie kämpfen musste, nie Schwierigkeiten hatte.

Inès Bayard lotet Maries Schweigen aus, und sie entfaltet dabei einen bewundernswerten Reichtum. Vor drei, vier Jahren, als sie diesen Roman schrieb, war sie gerade mal 25 Jahre alt. Ein vielversprechendes Debüt.

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