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Sehnsucht nach der Idylle Vom Glück, das seine Grenzen hat

Krieg, Krankheit und andere Katastrophen: In Krisenzeiten erwacht die Sehnsucht nach der heilen Welt. Wie zeigt sich das in der Literatur?

«Manchmal überfordert die Deutung der realen Welt die Menschen. Immer dann wird die Gattung der Idylle besonders wichtig», sagt Franziska Frei Gerlach. Sie ist Co-Leiterin eines Forschungsprojekts über Idylle am Deutschen Seminar der Universität Zürich.

Dieses Zusammenspiel könne man bis in die Antike zurückverfolgen, sagt Frei Gerlach. Aber auch aus der Schweiz gebe es berühmte historische Beispiele. Etwa Johanna Spyris «Heidi» von 1880 oder den «Schellen-Ursli» von Selina Chönz und Alois Carigiet, der gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs erstmals veröffentlicht wurde.

Das Glück der Grenze

Was zeichnet eine Idylle aus? Vor allem klare Grenzen, sagt Franziska Frei Gerlach. «Idyllen zeigen eine in sich abgeschlossene Welt. Schellen-Urslis Welt etwa ist eine Dorfgemeinschaft. Sie geht nur bis zum Maiensäss. Und auch die Anzahl Figuren ist klar begrenzt.» Innerhalb klarer Grenzen ist es einfacher, eine heile Welt zu entwerfen.

«Der zweite wichtige Bestandteil von Idyllen ist ein Glücksversprechen», so Franziska Frei Gerlach. Wenn die Aussenwelt mit ihren Krisen und Problemen unüberschaubar zu werden droht, ist die Sehnsucht nach einer anderen, einfacheren Welt etwas Naheliegendes.

Hauptsache einfach

Historisch haben Idyllen genau diese Sehnsucht befriedigt: Sie wurden als einfacher zu bewältigende Alternativen neben die komplizierte Realität gestellt: «Die Idylle», sagt Franziska Frei Gerlach, «leistet in solchen Situationen eine Komplexitätsreduktion.»

Komplexitätsreduktion heisst aber auch: Die Werte, die in Idyllen gross geschrieben werden, sind eher konservativ: «Wichtig sind etwa die Heimat, die Familie, und die Verbundenheit zur Natur», sagt Frei Gerlach.

Zum Beispiel «Knochenlieder»

Auch die Literatur der Gegenwart arbeitet noch mit der Gattung der Idylle. Franziska Frei Gerlach nennt etwa «Tamangur» von Leta Semadeni, «Flüchtiges Zuhause» von Rolf Hermann oder Martina Clavadetschers Roman «Knochenlieder», der 2017 auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis stand.

Clavadetschers Buch spielt in einem apokalyptischen Szenario, in einem totalitären Überwachungsstaat, der sich im Krieg befindet. Innerhalb dieses Staates existiert eine scheinbar heile Dorfgemeinschaft, die allerdings auch von Problemen zerrissen ist, wie sich herausstellt.

«Die Krise gehört dazu!»

Franziska Frei Gerlach sagt, daran könne man eine typische Entwicklung der Idyllen in der Gegenwartsliteratur erkennen. Ein Buch stellt der Realität nicht mehr einfach ein in sich geschlossenes Idyll entgegen. Diese Gegenüberstellung findet bereits innerhalb der Geschichte statt – wie in den «Knochenliedern».

Die Literatur hat also angefangen, sich bereits selbst mit der Idylle auseinanderzusetzen – in dem Moment, wo sie auftritt, wird sie gleich auch kommentiert.

Wenn aber die Idylle in der Literatur ein Symptom von Krisenzeiten ist und seit weit über 100 Jahren immer wieder idyllische Geschichten publiziert werden: Heisst das, dass unsere Gesellschaft seit Ewigkeiten in der Krise steckt?

Franziska Frei Gerlach sieht das weniger dramatisch: «Die Krise gehört zur gesellschaftlichen Entwicklung dazu!» Wenn eine Gesellschaft weiterkommen wolle, müsse sie Krisen bewältigen, und dazu seien Idyllen nach wie vor nützlich.

Winter ohne Schnee

Idyllen werden also auch in Zukunft noch wichtig sein. Franziska Frei Gerlach glaubt, dass die Familie und die Natur als wichtige Themen bestehen bleiben werden: «Ich kann mir gut vorstellen, dass es in Sachen Natur vermehrt klimakritische Idyllen geben wird.»

Einen Anfang davon könnte man zum Beispiel in «Der letzte Schnee» von Arno Camenisch sehen, in dem zwei Skiliftbetreiber auf den Wintereinbruch warten – ewig.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Aktualität, 28.02.20, 7:20 Uhr

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