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Literatur Stewart O’Nan über Wirtschafts- und Ehekrisen

Ein Ehepaar spielt im Casino um seine Existenz. Nur ein Gewinn kann die beiden noch vor dem finanziellen Absturz retten. Der neue Roman «Die Chance» des amerikanischen Erfolgsautors Stewart O’Nan behandelt ernste Themen, ist aber heiter erzählt. Der Autor selbst nennt die Geschichte eine «Komödie».

Ihre Flitterwochen verbrachten Art und Marion Fowler einst an den Niagarafällen. 30 Jahre später fahren sie über den Valentinstag erneut an diesen Ort. Nicht aus Liebe, sondern aus Verzweiflung.

Stets hatten sie sorgenfrei weit über ihre Verhältnisse gelebt, sich ein schönes Haus und ein teures Auto gegönnt. Bis sie im Krisenjahr 2008 unweigerlich auf dem Boden der Realität aufschlugen – so wie viele ihrer Landsleute aus der Mittelschicht.

Hoffnungslos verschuldet

Buchhinweis

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Stewart O'Nan: «Die Chance», aus dem Englischen von Thomas Gunkel, Rowohlt, 2014.

Art und Marion konnten ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen. Als dann beide den Job verloren, war das finanzielle Desaster perfekt.

Kein Wunder greift man in dieser Situation nach jedem rettenden Strohhalm: Der ehemalige Versicherungsstatistiker Art glaubt, eine sichere Methode zu kennen, wie er beim Roulette ein Vermögen machen kann. Im Casino an den Niagarafällen kommt es zum grossen Showdown.

Trennung nach dem Honeymoon?

Der Ausflug nach Kanada soll aber nicht nur die Geldprobleme lösen; Art erhofft sich, auf dieser zweiten Honeymoon-Reise auch das Herz von Marion zurückzugewinnen. Er liebt seine Frau auch noch nach 30 Jahren.

Sie hingegen hat resigniert und glaubt, dass diese «Flitterwochen» den Schlusspunkt ihrer Ehe markieren. Nach dem Valentins-Wochenende will sie getrennte Wege gehen. So ist der Titel «Die Chance» durchaus vieldeutig zu verstehen: Gibt es für dieses Paar tatsächlich einen Neuanfang?

Ein ernsthaftes Thema in heiterem Ton

Wie kaum ein Autor hat Stewart O'Nan den Blick dafür, was Extremsituationen mit Menschen und Familien anstellt. Immer wieder zeigt er uns in seinen Romanen den Alltag ganz gewöhnlicher Menschen, die vom Schicksal herausgefordert werden. In seinem neuen Roman ist sein Ton ungewöhnlich heiter und humorvoll, ohne dass er die Ernsthaftigkeit des Themas preisgibt.

Er habe von Anfang an eine Komödie beabsichtigt, sagt der Amerikaner – eine Art «middle-age-comedy» über typische Verhaltensweisen in Beziehungen. Gleichzeitig könne man das Buch auch «als Komödie über die amerikanische Wirtschaft lesen». Dies macht auch eine der Qualitäten des Romans aus: Stewart O’Nan hält der sorglosen amerikanischen Mittelschicht, die sich plötzlich den Gürtel enger schnallen muss, einen Spiegel vor.

Tiefgang und Tempo

Während Art und Marion an den Niagarafällen den Touristenströmen folgen oder es sich – trotz ungedeckter Kreditkarte – in ihrer teuren Hotel-Suite gut gehen lassen, schweifen ihre Gedanken immer wieder in die gemeinsame Vergangenheit zurück.

Hier entpuppt sich eine weitere Stärke von Stewart O’Nan: Er schlüpft in die Köpfe seiner Heldinnen und Helden und lässt uns unmittelbar an deren Gefühlsleben und Erinnerungswelt teilnehmen. Dieser ständige Perspektivenwechsel sorgt für Tiefgang und Tempo.

O’Nan, der Ingenieur und Menschenkenner

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Besprechung «Ein Gesicht in der Menge» von Stewart O’Nan und Stephen King
03:27 min
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 27 Sekunden.

Längst gehört Stewart O’Nan zu den wichtigsten Stimmen in der amerikanischen Literatur. Sein Faible für Horror-Elemente, das in früheren Büchern ist, hat ihm den Übernamen «Stephen King der anspruchsvollen Literatur» eingebracht.

O’Nans grosses psychologisches Gespür und sein unverstellter Blick auch in die menschlichen Abgründe mögen überraschen. Ursprünglich war er Luftfahrt-Ingenieur und testete der Flugzeuge auf ihre Stabilität. O’Nan sieht darin keinen Widerspruch – im Gegenteil: «Der Ingenieur muss ganz genau beobachten können und für jedes Problem eine Lösung finden. Dieses Profil passt doch perfekt zum Schriftsteller.»

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