- In Deutschland gehen Studierende gegen ein Gedicht von Eugen Gomringer vor, das sie als sexistisch empfinden.
- An Schweizer Unis gibt es kaum Proteste gegen Werke, die aus heutiger Sicht sexistisch, rassistisch oder diskriminierend wirken können.
- Über streitbare Texte müsse man mit analytischer Distanz sprechen, statt sie totzuschweigen, sagen Schweizer Literaturprofessoren.
Sechs Wörter sorgten vor Kurzem für viel Gesprächsstoff: Studierende forderten, das Gedicht «Avenidas» von Eugen Gomringer von der Fassade einer Berliner Hochschule zu entfernen. Sie fühlten sich persönlich betroffen von den in ihren Augen frauenfeindlichen Zeilen.
Warnung vor streitbaren Werken
Dass sich der universitäre Betrieb angesichts kanonisierter, aber aus heutiger Sicht streitbarer Werke an die Befindlichkeiten von Studierenden anpasst, ist in den USA bereits die Regel.
Dort weisen sogenannte «Trigger Warnings» auf Lehrstoff hin, der allenfalls als diskriminierend empfunden werden könnte. Sie sollen Studierende warnen, damit diese sich nicht in Veranstaltungen wiederfinden, deren Inhalte sie verletzen könnten.
Hierzulande kaum Proteste
Werden sich solche Regelungen nach US-amerikanischem Vorbild bald auch an Schweizer Hochschulen finden? Nein, sagt Philipp Theisohn, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Zürich: Europa sei nicht zu vergleichen mit den Vereinigten Staaten.
Kunst und Literatur sorgten an den hiesigen Universitäten nicht für politischen Sprengstoff und Proteste. Das bestätigt auch Nicola Gess, Literaturprofessorin in Basel, mit Blick auf ihre eigene Lehrtätigkeit: Es sei nicht zunehmend heikel geworden, im Unterricht Themen zu behandeln oder Texte zu lesen, die als diskriminierend empfunden werden können.
Literatur diktiert keine Wirklichkeit
Doch Philipp Theisohn erlebt ein gewisses Unverständnis, was Literatur eigentlich ist. Er stellt fest, dass man vielen Studierenden erst mal beibringen müsse, dass Literatur kein Diktat sei.
«Literatur sagt nicht: So hat die Welt zu sein. Oder, so müsst Ihr euch die Welt vorstellen.» Sondern Literatur zeige immer nur, auf welche Weise wir Wirklichkeit mit Bedeutung belegen. «Jeder Text eröffnet eine virtuelle Welt. Das heisst, wir haben immer die Möglichkeit, diesen Text zu vergleichen und in einen anderen Kontext zu stellen», so Theisohn.
Distanz statt Alltag
Abstrahieren können, den Text als Zeugnis einer Zeit verstehen, das gehört zum Grundhandwerk im Literaturstudium. So werden Texte im wissenschafltichen Kontext gelesen und besprochen.
Das kann man auch mit Werken, die aus heutiger Sicht rassistische Ausdrücke enthalten: «Entscheidend ist die entsprechende analytische Distanz und das historische Bewusstsein. Der wissenschaftliche Kontext ist ein ganz anderer als unser alltäglicher Kontext», sagt Nicola Gess.
Wer spricht über welchen Text?
Eine andere Frage ist, wer mit wem über einen Text spricht, der sexistische, rassistische oder anderweitig diskriminierende Inhalte enthält. Philipp Theison ist sich dessen bewusst:
«Wenn ich zum Beispiel vor einer Seminar-Gruppe stehe und spreche, überlege ich: Spreche ich da als Seminarleiter? Oder als Mann, der einen bestimmten vorgefilterten Blick auf die Dinge hat und diesen Blick der gesamten Gruppe, die eben nicht nur aus Männern besteht, überstülpt?»
Als weisser, europäischer Mann in mittlerem Alter habe er viele Privilegien, und es gebe nur wenige Texte, in denen sein eigener Status in Frage gestellt werde.
«Deswegen gestehe ich es bestimmten Leuten, die diese Privilegien nicht haben, durchaus zu, zu sagen: Moment, bestimmte Texte verletzen mich oder bringen mich in Gefahr oder fördern eine Meinung, die mich Gefahren aussetzt.»
Thematisieren statt ausblenden
Man müsse aber abwägen, was man der Kunst zutrauen dürfe – und was nicht. «Ich traue der Kunst viel zu. Deswegen bin ich dafür, dass man gewisse Dinge erstmal stehen lässt und sich mit anderen Mitteln gegen das wehrt, was man dahinter vermutet.» Das heisst, sich mit der Diskriminierungserfahrung auseinander zu setzen und darüber zu sprechen.
Für die Freiheit der Wissenschaft macht sich auch Nicola Gess stark: «Denn so schmerzvoll diese Erfahrungen der Diskrimierung sind, die Studierende gemacht haben können: Ich bin ich überzeugt davon, dass es falsch wäre, diese Dinge deswegen nicht mehr im universitären Kontext zu thematisieren.»
Literarische Werke, durch die sich jemand diskriminiert fühlen könnte, soll man also nicht verbieten oder totschweigen. Wichtig ist für Nicola Gess und Philipp Theisohn der Diskurs darüber – und die fortdauernde Auseinandersetzung damit.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur Kompakt, 22.9.17, 17:15 Uhr