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Literatur «Wildauge»: lieben über Fronten hinweg

Lappland im Kriegssommer 1944. Deutsche und Finnen sind eigentlich Verbündete. Bis die Russen den Finnen einen Sonderfrieden aufdrängen und die Freunde zu Feinden werden. Alles gerät ins Wanken. Nur die feurige Liebe einer finnischen Hebamme zu einem SS-Offizier lodert weiter.

In Katja Kettus Roman «Wildauge» heisst die Heldin Wildauge, weil sie schielt. Wildauge ist Hebamme und Krankenschwester in einem deutschen Gefangenenlager nahe der russischen Grenze, wo Menschen reihum umgebracht werden. Wildauge begehrt mit allergrösster Leidenschaft den SS-Offizier und Fotografen Johannes Angelhurst. Ein eigentlich empfindsamer Bursche mit finnischem Blut in den Adern. Er exhumiert Tote und bringt laufend neue Gefangene ins Lager.

Ein Tabuthema bis heute

Im sogenannten Winterkrieg (November 1939 bis März 1940) kämpften Finnen und Deutsche gemeinsam gegen die Sowjetunion. Im April 1945 beendeten Deutschland und Finnland ihre Koalition. Dies löste einen Monsterrückzug der deutschen Truppen über Lappland Richtung Süden aus.

Buchhinweis

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Katja Kettu: «Wildauge», aus dem Finnischen von Angela Plöger, Galiani, 2014.

Die zeitweilige Kollaboration der Finnen mit Deutschland im hohen Norden ist bis heute ein Tabuthema. Die Finnin Katja Kettu platziert denn auch im Anhang zu ihrem Roman Literatur zur Geschichte Finnlands im Zweiten Weltkrieg aus den letzten Jahren. Vor diesem realen Hintergrund zieht die junge, aus Lappland stammende Finnin ihre Tragödie auf.

Kleine grosse Hölle

Was dieser nordische Krieg im Grossen, ist das deutsche Lager Titowka nahe der russischen Grenze im Kleinen. Es ist ein Todes- und Gefangenenlager der Wehrmacht. Kommandant Gödel und Sturmbannführer Angelhurst waren 1941 schon zusammen als SS-Henkersknechte im ukrainischen Babi Jar. Rund 50‘000 Jüdinnen und Juden wurden dort mit ihrer Hilfe ermordet.

Der SS-Mann Angelhurst wurde damals beim Versuch, Menschen zu retten, von einem Mitsoldaten angeschossen. Seit dieser Massenexekution leidet er unter «bösen Träumen». Nachdem Wildauge ihrem Geliebten ein Foto geklaut hat mit Ermordeten in Babi Jar ist Angelhurst noch labiler.

Eine «Amour fou»

Wildauge übersieht die dunkle Seite ihres Geliebten keineswegs. Sie ist selbst Teil der Todesmaschinerie im Lager. Sie bringt als Hebamme finnische Babys zur Welt, assistiert im Lager als Todesengel für Kriegsgefangene und ist zugleich Krankenschwester für alle und jeden, manchmal auch Lebensretterin.

Ihr Begehren nach Sex mit Angelhurst ist so fiebrig, «dass mir Tag und Nacht die Lenden glühen. Dass ich will, dass du mich hier und jetzt schändest». Und sie will alles tun, um «den ganzen Krieg aus meiner Seele auszusperren und einfach nur zu zweit zu sein».

Wie ein Komet durchschiesst die Heldin diese Szenerie in Lappland. Natürlich holt die brutale Wirklichkeit das unstatthafte Liebespaar ein. Es wird, nachdem das Lager wieder in die Hände der Sowjets geraten war, nicht überleben.

An der Grenze zum Schwulst

Beim Liebesspiel konnte es schon mal passieren, «dass Wildauges Nüstern bebten wie die einer Stute». Denn die Protagonistin spürt nur «love in the air». «Überall duftete es nach dem zähen Staubleib der Mutter Erde»: Mit solcher ins Kraut schiessenden Naturmetaphorik schiesst Katja Kettu, die auch in einer Punkband singt, zuweilen übers Ziel hinaus. Auch wenn Johann Angelhurst Wildauges erster Mann ist.

Abgesehen davon dominiert Wildauge aber als unverwüstliche «Mutter Courage». Denn aus dem Innern dieser Figur strömt, was als traurige Historie einer abgelegenen Weltgegend eingeschrieben ist. Und so öffnet dieser Roman unsere Augen für ein lange verschwiegenes Kapitel der Weltgeschichte. Dies ist nicht wenig.

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