Georgien ist Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse , die am 10. Oktober eröffnet wird. Das Land hat eine lange Erzähl- und Literaturtradition, die bis ins frühe Mittelalter zurückgeht. Heute gilt Georgien als das Land unter den ehemaligen Sowjetrepubliken mit der jüngsten, innovativsten, schrillsten und lebendigsten Literaturszene.
Die verkörpert der 45-jährige Schriftsteller Zaza Burchuladze: Einst als wichtigste Stimme der jungen georgischen Literatur gefeiert, lebt er heute in Deutschland im Exil. Als Kritiker des religiösen Fundamentalismus in Georgien und des allgegenwärtigen Einflusses der orthodoxen Kirche wurde er an Leib und Leben bedroht.
SRF: Wie geht es Ihnen in Berlin als Schriftsteller ohne seine Sprache?
Zaza Burchuladze: Ein Schriftsteller ohne Sprache ist kein Schriftsteller. Wir können zwar in unseren Köpfen schreiben. Aber wir müssen ja auch Bücher schreiben – für unsere Leser. Es ist sehr schwierig. Denn ich kann in meiner Muttersprache nicht mehr schwimmen.
Vielleicht werde ich eines Tages nach Georgien zurückkehren. Um herauszufinden, dass meine Träume gestorben sind.
Natürlich spreche ich Georgisch. Jeden Tag brauche ich diese Sprache. Aber sie ist klebrig. Pampig. Wie Zement. Beton. Sie fliesst nicht mehr so wie früher. Und das stellt mich ehrlich gesagt vor grosse Probleme als Schriftsteller.
Sie haben die mächtige orthodoxe Kirche kritisiert, Ihre Landsleute wegen der patriarchalen Strukturen und der nach wie vor vorhandenen sowjetischen Mentalität angegriffen. Dafür wurden Sie schikaniert und verprügelt. Der damalige Staatspräsident Saakaschwili hat Sie öffentlich gerügt. Was ist Ihr Problem mit Georgien?
Ich bin ja nicht so dumm zu behaupten, dass Georgien das Problem ist. Vielleicht ist das Problem in mir. Aber es ist doch merkwürdig: Wir leben im 21. Jahrhundert und man wird für seine Bücher gehasst. Ich war provokativ, ich war scharf. Aber wenn man in Deutschland scharf und provokativ schreibt, passiert nichts.
Es ist wirklich sehr schwierig für mich, darüber zu sprechen. Man versuchte ein paar Mal mich zu töten, ich bekam hunderttausende von Tweets – «ich werde dich töten» und noch viel Schlimmeres. Und sie schreiben bis jetzt.
Welche Rolle spielt der Patriarch Ilia II. in der georgischen Gesellschaft? Sie haben ihn schon als mächtigsten und gefährlichsten Mann bezeichnet.
In Georgien ist der Patriarch unantastbar. Er ist wie ein «Copy-Paste» von Gott für die Georgier. Oder wie es in einem Sprichwort heisst: «Eine Frau ist unantastbar, solange sie nicht angefasst wird.»
Wenn du über ihn etwas Schlechtes sagst oder schreibst – und du darüber hinaus auch noch denken und schreiben kannst – bist du nicht nur der Trottel. Dann bist du der Teufel.
Am internationalen Tag gegen Homophobie 2013 wurde ein Grüppchen von Aktivisten von 5000 Gegendemonstranten verprügelt. Unter ihnen Priester und keifende Hausfrauen. Ist das Patriarchat das Problem?
Es ist eines der Probleme. Wir sind sehr nett zu unseren Frauen, wenn wir auf sie trinken. «Ach! Ihr Schönen! Wir können nicht leben ohne euch!» Aber zuallererst kommen mal wir. Die Männer.
Sagen wir es offen: Wir Georgier sind homophob.
Die Frau ist der Freund des Menschen, wie es heisst. Das ist wirklich schlimm. Und super schlimm war auch der Patriarch, als er öffentlich sagte, die Frau habe ihrem Mann jeden Abend die Füsse zu waschen.
Wir Georgier sind homophob. Sagen wir es offen: Wir haben letztes Jahr ein paar Transsexuelle getötet. Wir sind nicht tolerant gegenüber all den LGBTQ-Menschen. Es ist schwierig, sich in Georgien zu outen. Diese Leute bekommen immer noch Probleme oder sie verlassen Georgien. Tja, Georgien wird leer.
Reden wir von Russland und dem Augustkrieg von 2008. In Ihrem Buch «Adibas» beschreiben Sie diesen Krieg und kritisieren eine Jugend in Tiflis, die weiter ihre Feste feiert und sich einen Deut um den Krieg schert.
Ich war sehr wütend, als ich erfuhr, dass russische Truppen nach Tiflis kommen. Als ich meine Wohnung verliess und auf die Strasse ging, war ich nicht schockiert – ich war enttäuscht.
Es war wie in einem alten französischen oder italienischen, neorealistischen Film. Alle Strassen waren leer. Ich fragte mich: Wo sind die Leute? Wo sind sie? Vielleicht sitzen sie in ihren Häusern und fürchten sich vor russischen Bomben, Truppen, Panzern oder Soldaten?
Aber später fand ich heraus, dass ein grosser Teil der Bevölkerung geflohen war. Nach Aserbaidschan oder hinaus aufs Land. Aber auch, dass ein grosser Teil der Leute diesen Tag feierte. In Restaurants. Sie sassen dort, warteten auf russischen Truppen, stiessen auf sie an und sagten Dinge wie: «Jetzt wird Saakaschwili von Putin gefickt.»
Wie ist denn Ihr Verhältnis zu Russland?
20 bis 30 Prozent meines Landes ist von Russland besetzt. Und jeden Tag verschieben sie die Grenze etwas weiter in Richtung Tiflis. Bis es Georgien nicht mehr gibt. Putin ist die schrecklichste Person für Georgien.
Werden Sie eines Tages nach Georgien zurückkehren?
Ich merke gerade, ich spreche immer mit dieser Doppeldeutigkeit, wenn ich über Georgien rede. Ja und nein. Ich kann nicht sagen, ob ich eines Tages zurückkehren werde.
Georgien ist eine Fake-Fabrik. Alles ist Fake. Sogar Freundschaft. Sogar die Mutter. Sogar Gott.
Ich habe keine Hoffnung. Aber möchte ich denn? Natürlich möchte ich! Natürlich, weil ich Georgien vermisse. Aber wir vermissen keine Orte, wir vermissen uns selbst in manchen Orten. Und wir vermissen die Zeit, in der wir dort gewesen sind.
Wir sind alle Narzissten, also vermisse ich mich selbst. Meine Jugend, meine Kindheit. Obwohl ich weiss, dass ich das alles nicht wieder erreichen kann. Vielleicht werde ich eines Tages nach Georgien zurückkehren, nur um herauszufinden, dass meine Träume gestorben sind. Nur dafür.
Aber Sie haben doch Freunde: Ihr aktuelles Buch «Der aufblasbare Engel» wurde in Georgien als bestes Buch des Jahres ausgezeichnet. Von georgischen Leuten!
Nein, das haben nicht georgische Leuten gesagt, sondern georgische gebildete Leute. Georgische Professoren. Das ist ein grosser Unterschied. Gebildete Leute haben keine Grenzen. Sie sind Weltbürger.
Habe ich wirklich Freunde? Nein, ich hatte nie wirklich Freunde im Sinne von «von Freunden umgeben sein». Ich hatte immer nur sehr wenige. Zwei, drei. Aber dafür echte Freunde. Keine gefakten.
Georgien ist eine Fake-Fabrik. Alles ist Fake. Sogar Freundschaft. Sogar die Mutter. Sogar Gott.
Das Gespräch führte Michael Luisier.