Der britische Elektronik-Musiker Matthew Herbert mischt sich mit einem international besetzten Projekt «Brexit Big Band» in die Diskussion um die drohende Abschottung seiner Heimat.
SRF: Wann genau ist Ihnen die Idee gekommen zur Brexit Big Band?
Matthew Herbert: Nun, ich war zwei, drei Tage geschockt. Dann wollte ich mich in den Diskurs einbringen: Wer und was sind wir als Briten, wenn wir dereinst die EU verlassen?
Das klingt nach einer Selbstfindung .
Es ist eine Selbstfindung für die gesamte britische Gesellschaft. Für mich persönlich heisst Brite sein immer auch Europäer sein. Ich fühle mich sogar eher europäisch als britisch. Ich bin viel gereist, habe viel gelernt aus den vielen Begegnungen in ganz Europa. Also habe ich ein Musikprojekt auf die Beine gestellt, bei dem es um kreative Zusammenarbeit geht.
Es ist Zeit, dass andere Briten ihre Stimme erheben.
Was ist das Ziel Ihres Projekts?
Ich will damit zu unserem nationalen Gespräch beitragen. Denn es dürfen nicht nur rechte Zeitungen und weisse Männer der Mittelschicht darüber bestimmen, was es heisst, Brite zu sein. Es sind diese Leute, die unsere Probleme in erster Linie verursacht haben. Es ist Zeit, dass andere Briten ihre Stimme erheben.
Zum Schluss dieses Projekts geben Sie – mit dem Austritt Grossbritanniens aus der EU – ein Album heraus. Ein politisches Werk also. Wie gehen Sie an diese heikle Aufgabe heran?
Es ist zentral, dass ein politisches Werk zwei Dinge tut: Es sollte die Gegenwart kritisieren, aber auch Lösungen oder Antworten bieten. Wenn man nur Wut, Enttäuschung und Frustration rauslässt, wirkt das hilflos oder impotent. Bleibt man hingegen positiv, blendet man aus, dass der Brexit für viele Menschen ein Trauma darstellt und zutiefst verstörend ist.
Ich habe versucht, beides zu vereinen. Ein grosser Teil des Albums hat mit Erinnerung zu tun: an unsere Geschichte, an die Dinge, die wir als Gesellschaft als wichtig erachten. Es geht darum, zu verstehen, woher wir kommen. Und dass wir uns daran erinnern, zuzuhören.
Man könnte sagen: Politik ist Sache der Politiker, Künstlerinnen und Künstler sollen bei ihren Werken bleiben. Was sagen Sie dazu?
Letztlich geht es um das Storytelling. Wir erfinden und beschreiben uns mit Geschichten. Im Guten wie im Schlechten. Nehmen wir Donald Trump: Der Mann ist von mir aus gesehen böse. Aber er ist ein verführerisch guter Geschichtenerzähler. Aus einem komplizierten Sachverhalt macht er eine einfache Aussage.
Es die Rolle der Künstler, sich mit ihrer Kreativität für eine andere Zukunft einzusetzen.
Das ist beim Brexit auch passiert. Mir gefällt auch nicht alles an der EU – etwa die Austeritätspolitik für Griechenland oder die Liebe zum neoliberalen Kapitalismus. Aber die EU ist nicht schuld an der Armut in Grossbritannien und am Niedergang der sozialen Netzwerke. Dennoch wurde das behauptet, viele Leute haben es geglaubt. Eine zu einfache Geschichte!
Nun ist es die Rolle der Künstler, sich mit ihrer Kreativität und Fantasie für eine andere Zukunft einzusetzen. Es geht um den Dialog zwischen den verschiedenen Stimmen.
Was meinen Sie mit den verschiedenen Stimmen?
Über den Niedergang der Automobilindustrie einen Artikel in der Zeitung zu lesen ist etwas anderes als dieselbe Geschichte von einem Autoarbeiter im Radio zu hören. Noch etwas anderes ist es, wenn ich auf der Bühne einen Ford Fiesta auseinandernehme und mit den einzelnen Teilen Musik mache. Es sind alles sich ergänzende Stimmen – als wären wir miteinander im Gespräch.
Das Gespräch führte Eric Facon.