Vor 50 Jahren war die Welt im Umbruch: Die Jugend begehrte gegen die Politik und die Lebensweise der Eltern auf. Rock- und Pop bildeten den Soundtrack. Mittendrin: Die Pretty Things.
Gitarrist Dick Taylor war Gründungsmitglied der Stones, hatte die Band aber zugunsten der Kunstschule verlassen. Dort gründete er mit dem Sänger Phil May eine Kombo, die dasselbe musikalische Terrain bespielte, nur eben wilder – und kommerziell weit weniger erfolgreich.
Heute, 50 Jahre später, sind die Pretty Things auf Abschiedstourneee. Ein Blick zurück aus der Sicht der beiden Gründerväter Dick Taylor und Phil May.
SRF: 1968 waren Sie 24 und 25 Jahre alt. Können Sie die damalige Stimmung beschreiben?
Dick Taylor: Alles veränderte sich sehr schnell. In London schien es, als werde die Jugendkultur die Gesellschaft übernehmen.
Phil May: Ja, als sei das der neue Mainstream.
Dick Taylor: Wenigstens in London war das so. Vielleicht war das für die Jugend in Huddersfield oder sonst einem Ort in der Provinz anders.
Was Sie beschreiben, klingt nach einer Bubble.
Phil May: Ja, es war eine Bubble. Man darf eines nicht unterschätzen: In London gab es bereits jüngere Leute, die bereits Geld gemacht hatten. Diese Leute hatten Mittel, Filme über diese neue Kultur zu drehen, neue Mode zu entwerfen, also alle die Dinge zu tun, die es in einer Szene braucht. Dann kamen die Banker und Buchhalter dahinter, dass diese Jugendkultur eine grosse Geldmaschine war.
Dick Taylor: Wie so häufig in der Geschichte der Jugendkulturen. Und man muss die Beatles erwähnen. Die waren damals enorm populär. Wenn die sich für die Psychedelik und alternative Lebensformen interessierten, machte es neue Gedanken salonfähig.
Die Beatles hatten ein Jahr zuvor «Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band» herausgegeben, ein Album, das für die Rockmusik ein riesiger Sprung vorwärts war. Auch die Pretty Things haben sich in jenem Jahr stark weiterentwickelt. War das Zeichen der Zeit?
Dick Taylor: Wir mussten uns entwickeln und wir wollten uns entwickeln – beides in einem.
Phil May: Ich denke, wir wären eingegangen oder schal geworden, hätten wir nicht die Entwicklung gesucht.
Heraus kam «S.F. Sorrow» – von vielen als die erste Rockoper bezeichnet, als erstes Album mit einer zusammenhängenden Geschichte. Wie kam das zustande?
Phil May: Ich hatte eine Kurzgeschichte geschrieben über einen Sergeant namens Sorrow. Darin ging es um den Krieg und um Schützengräben. Als wir versucht haben, das als Basis für Musik zu nehmen, nahm die Geschichte einen andern Verlauf: Sebastian F. Sorrow, ein Junge der Nachkriegszeit, wurde zum Helden der Geschichte. Nun ging es also ums Erwachsenwerden, um Masturbation, um das Verliebtsein – und der Krieg war Teil davon.
Der Zweite Weltkrieg scheint über den Werken vieler britischer Rockmusiker jener Zeit zu schweben.
Phil May: Ja, tatsächlich. Wenn ich in den frühen 1960er-Jahren zur Kunstschule in London fuhr, kam ich an vielen Häuserzeilen vorbei, die Lücken hatten. Wo mal ein Haus war, war jetzt ein Loch.
Der Krieg war zwar seit 15 Jahren vorbei, sichtbar war er immer noch. Er hatte für Dick und mich auch befreiende Wirkung.
Unsere Eltern empfanden das so: Unsere Generation hat die Welt beinahe in die Luft gejagt, was sollen wir unseren Kindern verbieten, ihre verrückten Ideen zu verfolgen. Als ich meinem Stiefvater sagte, ich wolle aus der Kunstschule austreten und nur Musik machen, hat er nur gesagt: «Hauptsache, du endest nicht in der Fabrik».
S.F. Sorrow ist ein überraschendes Album, musikalisch vielschichtig und inhaltlich spannend. Trotzdem fiel es damals beim Publikum durch. Ein Jahr später kamen The Who mit «Tommy» und wurden als Urheber der ersten Rockoper gefeiert. Bereuen Sie den mangelnden Erfolg?
Dick Taylor: Überhaupt nicht.
Phil May: Ich hätte es gern gesehen, wenn ein paar Leute mehr das Album gehört hätten. Ich war echt am Boden zerstört.
Dick Taylor: Das Album ist, was es ist, es hat die Zeit gut überstanden. Wenn das die Menschen damals nicht gemerkt haben, dann ist das halt so. Immerhin wird es regelmässig wiederentdeckt, über Generationen hinweg.