Zum Inhalt springen

Header

Inhalt

Das digitale Ich Juli Zeh: «Der Staat muss uns vor Überwachung schützen»

Kurz nach Edward Snowdens Enthüllungen schrieb die deutsche Autorin Juli Zeh einen offenen Brief an Angela Merkel. Sie forderte die Kanzlerin auf, sich zu einer Strategie zu bekennen – bisher ohne Reaktion. Im Mai dieses Jahres doppelte Zeh nach. Was treibt die Autorin an? Ein Interview.

Juli Zeh, wie kann der Einzelne der Bewachung heute überhaupt noch ausweichen?

Juli Zeh: Es gibt natürlich technische Möglichkeiten, sich ein bisschen zu schützen: Etwa, indem man seine E-Mails verschlüsselt, vielleicht eine Firewall installiert und im Alltag darauf achtet, nicht allzu viele Daten zu hinterlassen. Aber mein Ansatz ist nicht, dass der Einzelne sich schützen muss. Ich bin der Meinung, dass der Staat uns vor Überwachung schützen muss, sodass wir uns in den neuen Kommunikationsmedien frei bewegen können.

Viele Menschen regen sich über die NSA-Spähaffäre auf. Wenn es aber darum geht, das eigene Verhalten zu verändern, sind viele zu bequem.

Ich weiss nicht, ob man das Bequemlichkeit nennen muss. Man kann es auch so sehen: Die Menschen möchten die neuen Möglichkeiten frei und nach ihrem Vergnügen oder Nutzen verwenden. Das finde ich in Ordnung. Aber: Was bei diesen Überwachungen passiert, ist zum Teil Datendiebstahl. Das sind Gesetzes- und Grundrechtsverletzungen und muss geahndet werden.

Es liegt nicht in der Verantwortung des Einzelnen, dem auszuweichen. In anderen Bereichen sagt man ja auch nicht: Zieh dir eine schussfeste Weste an, wenn Du auf die Strasse gehst, damit dich keiner erschiesst. Der Staat hat das Gewaltmonopol und muss dafür sorgen, dass wir uns frei bewegen können. Selbstverteidigung ist nicht die Antwort.

Dennoch hat die Spähaffäre das Konzept des Subjekts verändert.

Selbst wenn das der Fall wäre, wäre das nicht schlimm. Denn das Konzept des Subjekts ist nicht starr, sondern von jedem Einzelnen frei definierbar. Und es verändert sich auch zeitgeschichtlich. Das einzige, worauf wir im menschlichen Zusammensein pochen können, sind gewisse Regeln im Umgang miteinander. Dazu gehört nach unserem Verständnis von Demokratie auch, dass man die schwache Position des Einzelnen verteidigt, und zwar gesetzlich. Denn der Einzelne hat nicht die Möglichkeit, sich gegen mächtige Gegner zu schützen.

Diese Idee muss auf die digitale Sphäre übertragen werden. Sie ist auch überhaupt nicht neu: Wir haben das in allen anderen Bereichen des Wirtschaftslebens, bei Sicherheitsbestimmungen, Autos, im Strassenverkehr – überall. Nur im Internet heisst es auf einmal: Das geht nicht.

Sie engagieren sich stark in dieser Sache. Wie wirkt sich Ihr Engagement für Sie als Schriftstellerin aus?

Ich habe weniger Zeit für meine normale Arbeit. Die Arbeit im politischen Feld ist leider zeit- und kostenintensiv. Aber die Lage ist nun mal momentan sehr angespannt, und es gibt auch nicht so viele Künstler oder Autoren, die sich engagieren. Umso mehr fühle ich mich verpflichtet.

Was hat der Protest bisher genutzt?

Sehr viel. Wir haben im letzten Jahr seit den Enthüllungen von Edward Snowden einen unfassbaren Bewusstseinswandel erlebt. Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit dem Thema und stiess früher auf Unverständnis. Die Leute hatten das Gefühl, als Datenschützer sei man Hysteriker oder Paranoiker. Inzwischen hat jeder verstanden, was das Problem ist. Aber jetzt kommt der nächste Schritt: Wir müssen uns überlegen, was getan werden soll. Da stockt es momentan.

Sind Sie zuversichtlich, dass die Politik die Freiheit des Einzelnen wird schützen können?

Manchmal denke ich, dass wir das Thema mit anderen grossen politischen Entwicklungen vergleichen müssen, etwa mit dem Umweltschutz oder mit der Sozialgesetzgebung. Sie wurden auch durch technische Revolutionen ausgelöst – und es hat Jahrzehnte gedauert, bis man politisch reagierte. Deswegen dürfen wir nicht ungeduldig sein.

Dann gibt es wieder Tage, wo ich erfahre, was für eine unfassbare Lobbyarbeit Konzerne wie Google momentan machen. Die Firmen merken, dass starke Kritik aufkommt und verzehnfachen ihre Anstrengungen, um auf Politik und Medien einzuwirken. Da wird mir angst und bange.

Grundsätzliche glaube ich aber daran, dass Menschen eine gewisse Macht haben, politisch ihre Zukunft zu gestalten. Es wird letztlich davon abhängen, wie viele von uns anfangen, sich für dieses Thema zu interessieren.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt vom 11.6.2014, 17:10 Uhr

Meistgelesene Artikel