Saúl Macyszyn war zehn Jahre alt, als er auf dem Trottoir von einem LKW überfahren wurde und einen Arm verlor. Die argentinische Präsidentengattin Evita Perón erfuhr von seinem Fall und kam für die 17 Operationen und den dreijährigen Spitalaufenthalt auf.
«Sie ist so etwas wie meine zweite Mutter. Meine erste Mutter hat mich auf die Welt gebracht und mir das Leben gegeben. Evita hat es gerettet», sagt der heute 80-jährige Macyszyn. «Sie sagte mir: Saúlito, du hast nur einen Arm. Du wirst nicht Arbeiter werden können wie dein Vater. Du musst studieren. Meine Stiftung wird für alles aufkommen, was du brauchst.»
Evitas Geschenk
Zielstrebig geht der alte Mann auf eine Glasvitrine im Evita-Museum in Buenos Aires zu. Er zeigt auf einen Spielzeug-Zug: «Den hat Evita mir geschenkt», erklärt er. «Nach dem Unfall konnte ich nicht laufen, lag den ganzen Tag nur auf einer Decke auf dem Boden. Keins der Kinder im Viertel wollte mit dem Einarmigen, der nicht mal laufen konnte, spielen. Doch, sobald ich den Zug hatte, kamen alle zu uns und wollten abends gar nicht nach Hause gehen.»
Für die Angestellten im Museum ist der Rentner der «Junge mit dem Spielzeug-Zug». Macyszyn lässt nichts auf Evita, die Wohltäterin, kommen. Zu Evita, der Politikerin, will er sich nicht äussern.
Umstrittener Ehemann
Ein armes Mädchen, das Schauspielerin wird, den mächtigsten Mann des Landes heiratet und plötzlich einen Millionenetat verwaltet, mit dem sie soziale Wohltaten finanzieren kann: Es klingt wie aus einem Märchen. Ihr Mann, Juan Domingo Perón, wurde 1946 Präsident Argentiniens und regierte das Land mit harter Hand. Ein umstrittener Präsident, der sich für Arbeiterrechte einsetzte und dem faschistische Tendenzen vorgeworfen wurden.
Die Massen liebten vor allem seine Frau – schnell hatte sie Beinamen wie «die gute Fee» oder «Santa Evita». Doch Evita hatte auch Feinde: Es gefiel längst nicht allen, dass die Frau des Präsidenten so grosse Macht ausübte, obwohl sie eigentlich kein Amt bekleidete. «Viva el cáncer, es lebe der Krebs», stand in Buenos Aires an einige Hauswände geschrieben, als Evita schwer erkrankte und mit nur 33 Jahren starb.
First Lady als Vorbild
Die Trauerfeierlichkeiten dauerten zwei Wochen, es kamen drei Millionen Menschen. Doch selbst nach ihrem Tod hört Evitas unfassbare Geschichte nicht auf: Als das Militär 1955 Peróns Regierung stürzt, wird ihr Leichnam heimlich nach Italien verschickt und gilt danach 17 Jahre lang als verschollen. Heute liegt Evita in Buenos Aires auf dem Recoleta-Friedhof begraben. Längst ist ihre letzte Ruhestätte zur Touristenattraktion geworden.
«Evita hat mich mit ihrer Solidarität inspiriert», sagt Saúl Macyszyn, der «Junge mit dem Spielzeugzug». Er gründete vor zwei Jahrzehnten den Fast-Food-Laden Discapanch am Bahnhof Retiro, in dem nur Behinderte arbeiteten.
Macyszyn ist den Tränen nahe, als er erzählt: «Aber vor zwei Jahren wurde aus dem Bahnhof ein Shopping-Center, da passten wir nicht mehr rein und mussten gehen.» Sein Wunsch: Alle Präsidenten auf der Welt sollten ein Bild von Evita auf dem Schreibtisch stehen haben. «Und wenn sie ein Gesetz unterzeichnen, müssten sie Evita in die Augen sehen und sich fragen: Ist dieses Gesetz wirklich gut für alle? Auch für die Armen?»