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30 Jahre nach dem Mauerfall Mit einem dicken Minus in die neue Zeit

Kaum zu schaffen: Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk sieht im System der Altschulden die Wurzeln der Misere im Osten.

Ilko-Sascha Kowalczuk ist ein renommierter Historiker und sein jüngstes Buch «Die Übernahme. Wie Ostdeutschland ein Teil der Bundesrepublik wurde» ist ein Bestseller. Bereits die fünfte Auflage geht in Druck. Die Menschen interessieren für die Geschichte der Wiedervereinigung und vor allem für das, was schieflief.

Es ging zu schnell, sagen viele. Nein, sagt Kowalczuk. Das sogenannte «Window of opportunity» (dt. «Gelegenheitsfenster») der Weltgeschichte war klein. Denn bereits im Sommer 1991 kam es zu einem Putsch in der Sowjetunion. Niemand weiss, ob die UdSSR danach noch Ja zu Vereinigung gesagt hätte.

Die Geschichte von Dieter

Was falsch lief, kann der Ostdeutsche Kowalczuk an der Geschichte seines Schwiegervaters Dieter erklären: Dieter war Maurer, arbeitete sich hoch, wurde Direktor eines kleinen Baubetriebs bei Magdeburg. Bauen war ein riesiges Problem in der DDR, denn es fehlte an allem. Aber Dieter klagte nicht. Er fluchte, ackerte, trank mal einen zu viel, aber er schaffte es. DDR eben, wie Kowalczuk umschreibt.

1989 vor dem Fall der Mauer durfte Dieter seinen Bruder im Westen besuchen. Als erstes ging er in einen Baumarkt. Als er sah, dass es hier alles gab, woran es in der DDR mangelte, brach er in Tränen aus. Mit der Wiedervereinigung machte sich Dieter selbständig. Er hatte Aufträge ohne Ende und ging dennoch pleite. «Grund waren die Altschulden, die auf den DDR-Betrieben lagen», erklärt Kowalczuk.

So entstanden die Altschulden

Denn in der DDR lief das so: Wenn ein Betrieb Gewinn machte, wurde dieser an den Staat zurückgeführt. Zugleich wurde der Betrieb verpflichtet, Investitionen zu tätigen, etwa für einen Kindergarten, einen Sportplatz oder eine Schwimmhalle. Dazu wurden dem Betrieb mittels buchungstechnischer Tricks Mittel zugewiesen. Diese wurden nach 1990 in Kredite umgewandelt und sie wurden zu sogenannten «Altschulden».

Betriebe und Kommunen in Ostdeutschland starteten also mit einem dicken Minus in die neue Zeit. Die Altschulden brachen auch Dieter das Genick: Irgendwann bekam er keine Kredite mehr, und ausgeführte Aufträge wurden nicht bezahlt. Er konnte seine Leute nicht mehr bezahlen, die Schulden wuchsen. «Mein Schwiegervater wurde so krank, dass er Krebs bekam und früh verstarb.»

Ungleiche Spiesse

Westdeutschen, die ehemalige DDR-Betriebe übernahmen, wurden die Altschulden dagegen erlassen. Etwa dem Betrieb auf der anderen Strassenseite, verkauft für eine symbolische Mark gegen das Versprechen, die Arbeitsplätze zu sichern. Doch dieser machte nach kurzer Zeit dicht, entliess alle und hatte andere Pläne.

Kowalczuk weiss, wovon er spricht. Er war von 1995 bis 1998 Mitglied der Enquete-Kommission des Bundestags, welche Geschichte und Folgen der SED-Diktatur aufarbeitete. Nicht einmal die westdeutschen Finanzpolitiker hätten das System der Altschulden begriffen, erinnert er sich an eine Sitzung im kleineren Kreis mit dem damaligen Finanzminister Theo Waigel (CDU).

«Ich hatte den Eindruck, dass sie das System mit den Altschulden selber nicht verstanden.»
Autor: Ilko-Sascha Kowalczuk Historiker, Mitglied Enquete-Kommission des Bundestags

Vielleicht hätte man den Ossis die Chance geben sollen, selber als Unternehmer ihr Land wiederaufzubauen. Vielleicht in Partnerschaft mit Westdeutschen, aber nicht mit schlechteren Karten als die Brüder aus dem Westen. Oft wurden den Ostdeutschen auch einfach Westdeutsche vor die Nase gesetzt, unabhängig von der Qualifikation. Eine kleine Geschichte, die ganz viel erklärt.

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