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75 Jahre Befreiung von Paris Sie nannte sich Rainer

«Paris libéré!», Paris, befreit nach vier Jahren deutscher Besatzung. Die Worte von General De Gaulle vor dem Pariser Stadthaus verbreiten sich wie ein Lauffeuer, tausende Menschen strömen auf die Strassen. Doch am Place de la République, der letzten Bastion der Nationalsozialisten, wird noch gekämpft.

«Das waren Soldaten der SS. Sie wollten sich nur der regulären Armee ergeben, nicht uns Résistance-Kämpfern», erinnert sich Madeleine Riffaud. Als die Waffen endlich schweigen, ist ihr und ihren Freunden aber nicht nach Feiern. «Wir waren einfach nur müde. Wir hatten acht Tage kaum geschlafen, wenig gegessen. Und bei all den Gefährten, die getötet worden waren – wir sassen schliesslich auf einer Bank, zu dritt. Und wir haben geweint. So geweint.»

Madeleine Riffaud im Jahr 1944.
Legende: zvg

Radikalisiert durch Demütigungen

Es ist der kräftige Fusstritt eines deutschen Offiziers, der über ihr Leben entscheidet. «Mit der Nase im Staub habe ich ganz fest gedacht: ich finde Euch, Ihr demütigt uns nicht mehr lange», betont die heute 95-Jährige und zieht an ihrem kubanischen Zigarillo. Doch 1941 erkrankt Madeleine Riffaud an Tuberkulose. Im Sanatorium bei Grenoble verschlingt sie Bücher noch und noch und Rainer Maria Rilke wird ihr Lieblingsdichter. Zurück in Paris und eingeschrieben an der medizinischen Fakultät, nimmt sie Kontakt zur Résistance auf; «Rainer» wird ihr «nom de guerre», ihr Deckname.

Porträt von der jungen Madeleine Riffaud.
Legende: zvg

Von der Kreide zur Pistole

Die Kreide ist ihre erste Waffe. Sie kritzelt Parolen auf Hausmauern, macht Botengänge, informiert die der deutschen Nonstop-Propaganda ausgesetzten Bevölkerung. Doch Madeleine Riffaud will mehr. «Ich war es leid, dass wir Frauen zwar den Männern die Waffen und Granaten für ihre Einsätze brachten, nachher aber verschwinden mussten. Ich ging zu meinem Chef und sagte: ich kann bleiben, ich kann dasselbe tun wie die Männer!»

Dass Freischärler nach drei, maximal fünf Monaten getötet werden, schreckt sie nicht ab. «Ich höre mich heute noch sagen: ist mir egal.» Schiessen hatte sie von ihrem Vater gelernt, den Umgang mit Sprengstoff lernte sie im Untergrund. «Rainer» tritt der Kommunistischen Partei bei, führt bald ein Grüppchen an Freischärlern und Partisanen an. Den Befehl der KP, die deutschen Besatzer mit Attentaten auf Offiziere am heiterhellen Tag zu demoralisieren, setzt sie kaltblütig um. «Es war ein schöner Tag, der 23. Juli 1944, ein Sonntag. Ganz Paris war draussen. Ich sagte mir, jetzt oder nie.»

Madeleine Riffaud fährt mit dem Velo dem Quai d’Orsay entlang. Bei der Fussgängerbrücke Solférino sieht sie einen einzelnen Offizier. «Er hat den Booten auf der Seine zugeschaut. Weil ich ihn nicht von hinten erschiessen wollte, habe ich gewartet, bis er sich zu mir umgedreht hat. Und habe ihm zwei Kugeln in die linke Schläfe gejagt.»

Madeleine Riffaud in jungen Jahren.
Legende: zvg

«Retter» Tuberkulose

Madeleine Riffaud, einen Monat vor ihrem 20. Geburtstag, wird sofort geschnappt. Die Gestapo nimmt sie in die Mangel. Sie wird gschlagen und gefoltert. Weil sie Blut spuckt, lassen die Nazis aber von ihr ab. «Die Deutschen hatten panische Angst vor Mikroben, davor, sich anzustecken. Insofern hat mich meine Tuberkulose gerettet», grinst die alte Dame heute.

Auf mirakulöse Weise entkommt sie Exekution und Deportation und wird am 19. August 1944 dank eines grossen Gefangenenaustausches freigelassen. Nach einem Tag im Spital führt sie ihr Freischärler-Grüppchen als Unter-Leutnant in den entscheidenden Kämpfen um Paris wieder an.

Zusammen mit drei Kameraden gelingt es ihr, einen Zug mit über 80 deutschen Soldaten in einem Tunnel im Norden der Stadt zu blockieren. Sie hätten den Tunnelausgang mit Maschinengewehren beschossen und Sprengsätze auf die Schienen geworfen. «Dabei war aus Versehen auch eine Kiste mit Feuerwerk auf den Schienen gelandet. Blaue und rote Raketen schossen raus. Die Deutschen wussten nicht, wie ihnen geschah.» Sie ergaben sich den vier Résistance-Kämpfern widerstandslos.

Madeleine Riffaud mit 20 Jahren.
Legende: zvg

Schriftstellerin und Kriegsreporterin

Nach der Befreiung von Paris will Madeleine Riffaud der regulären französischen Armee beitreten. «Doch die wollten kein Mädchen, das noch nicht mal volljährig und ausserdem tuberkulös war», ärgert sie sich heute noch. Nach einer tiefen Depression beginnt Madeleine Riffaud zu schreiben und schlägt die Journalisten-Laufbahn ein. Sie begegnet grossen Poeten wie Paul Eluard, trifft auf Picasso, der sie zeichnet.

Als Kriegsreporterin berichtet sie aus Algerien, wo sie bei einem Attentat der OAS schwer verletzt wird. Sie lernt Hô Chi Minh kennen und verbringt mehrere Jahre in Vietnam. «Ich hatte ein spannendes Leben», sagt Madeleine Riffaud heute. «Ich habe immer zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Leute kennengelernt.» Und sich dabei den widerständigen Geist bewahrt. «Selbst in den schlimmsten Momenten – wie als uns die Deutschen für ein Stück Brot weinen, uns kriechen sehen wollten – in solchen Momenten muss man sich sagen: ich bin kein Opfer! Ich bin ein Kämpfer! Das ändert alles!»

Madeleine Riffaud heute.
Legende: Madeleine Riffaud heute: «Ich hatte ein spannendes Leben.» SRF

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