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75 Jahre Kriegsende Nürnberg – Vom Nazi-Propaganda-Zentrum zum Ort der Abrechnung

Die KZ-Häftlinge, die er täglich auf dem Schulweg sah, haben sich in seine Erinnerung eingeprägt.

Ungarische Familie auf dem Weg in Konzentrationslager Auschwitz.
Legende: Ganze Familien verschwanden in den Konzentrationslagern der Nazis. Keystone

Ausgemergelte Gestalten in Hemd und Hose, mitten im bitterkalten Winter 1944/45. «Die Leute sagten später, sie hätten nichts von den Konzentrationslagern gewusst. Aber das stimmt nicht, sie haben es alle gewusst».

Reiner Wagner auf seinem Balkon in Nürnberg.
Legende: Reiner Wagner hat die Geschichtsaufarbeitung seiner Stadt eng begleitet. SRF / Bettina Ramseier

Der das sagt, ist Reiner Wagner, 1933 in Nürnberg geboren als Sohn eines engagierten Sozialdemokraten. Kurz nach Reiners Geburt verlor der Vater seine Stelle im städtischen Dienst. Privat lehnte er das Regime ab, öffentlich duckte er sich, so gut es ging. Die Fahne, die jede Familie zu den Reichsparteitagen vors Fenster zu hängen hatte, war bei den Wagners besonders klein. Mehr Widerstand lag nicht drin.

Hitlers Lieblingsstadt

Reiner hätte lieber dazugehört. Er wollte bei der Hitlerjugend mitmarschieren und ärgerte sich, dass die Eltern sich weigerten, ihm die passende Uniform zu kaufen.

Reiner Wagner als Kind.
Legende: Das Kind Reiner Wagner hat sich durch die Haltung der Eltern eher ausgeschlossen gefühlt. SRF/Reiner Wagner

«Als Kind will man sich nicht ausschliessen», erklärt er etwas verlegen. Erst als der Vater eingezogen wurde, kaufte ihm die Mutter heimlich ein Uniform-Hemd, «aber schreib's nicht dem Vater an der Front!».

Die Stadt galt als Hitlers Lieblingsstadt, hier fanden ab den späten 1920ern die Reichsparteitage der Nazis statt, jene gigantischen Propaganda-Veranstaltungen, die die Überlegenheit des Nationalsozialismus demonstrieren sollten.

Bild eines Reichsparteitages 1935.
Legende: Der Propaganda-Maschinerie der Nazis konnte man sich fast nicht entziehen. Ihre Parteiaufmärsche waren gigantisch. Getty Images

1935 wurden hier die antisemitischen Rassengesetze beschlossen, die als «Nürnberger Gesetze» in die Geschichte eingingen und die Voraussetzung schufen für die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung von Millionen.

Das mittelalterliche Nürnberg, die deutscheste aller deutschen Städte, wie sie von der Propaganda stilisiert wurde, bot den Nazis die perfekte Kulisse: Hier konnten sie sich inszenieren als Vollender einer Reichskultur und auf eine Tradition zurückgreifen, die der Nationalsozialismus selbst nicht hatte.

Schlechter kann's nicht werden!

Reiner Wagner sitzt auf der Terrasse seiner Wohnung im Nordosten Nürnbergs, rundherum viel Industrie und vereinzelte Wohnblöcke, abseits der Altstadt. Wobei «alt» in diesem Zusammenhang etwas übertrieben ist. Kaum ein Gebäude in Nürnberg ist älter als 70 Jahre.

Luftbild der zerstörten Stadt Nürnberg.
Legende: Der Betrachter braucht viel Fantasie, um im zerbombten Nürnberg überhaupt noch eine Stadt zu erkennen. Stadtarchiv Nürnberg

Seit vielen Jahren ist Reiner Wagner – wie sein Vater – Sozialdemokrat. Nach der Pensionierung vor gut zwanzig Jahren begann er, im Auftrag der SPD die Rolle der Partei während der NS-Zeit aufzuarbeiten.

Wir wussten, jetzt kommt etwas Neues.
Autor: Reiner Wagner

«Die Genossen damals besassen keine Waffen, und viele von ihnen waren Pazifisten. Wie wollen Sie mit solchen Leuten einen Aufstand machen? Das ist ein Widerspruch in sich!», lacht Wagner entschuldigend. Aufgewachsen ist er in einer «roten Siedlung», an die zwanzig Männer seien damals abgeholt und ins KZ gebracht worden.

Die meisten kamen zurück, doch über das Erlebte sprechen konnte kaum einer. Nur einen habe er gekannt, der regelmässig vor Schulklassen sprach, erzählt Wagner. Ein anderer habe es einmal versucht und sei in Tränen ausgebrochen. Überhaupt habe nach 1945 kaum einer über den Krieg und schon gar nicht über dessen Ursachen gesprochen. Die Menschen wollten vorwärtsblicken, nicht zurück. «Wir wussten, jetzt kommt etwas Neues. Und es muss besser sein, schlechter kann's nicht werden, ne?»

Stundenlang eingesperrt

Immer wieder war Nürnberg während des Krieges bombardiert worden. Und doch gab es verhältnismässig wenig Tote im Vergleich zu anderen deutschen Städten. Vielen Tausenden retteten die mittelalterlichen Felsenkeller das Leben. Ursprünglich zur Lagerung von Bier unter die Häuser gehauen, wurden sie vor dem Krieg zu Bunkern umfunktioniert, um die Kunstschätze Nürnbergs zu retten.

Nürnberger Felsenkeller
Legende: In den Bombennächten 1945 fanden tausende Zivilisten in den Felsenkellern Unterschlupf. SRF/Bettina Ramseier

In der schlimmsten Bombennacht im Januar 1945 hätten sich an die 50'000 Menschen in die Keller geflüchtet, erzählt uns Ralf Arnold vom Verein Felsenkeller.

Nürnberg vor dem Krieg.
Legende: Dank der Felsenkeller blieben auch viele Kunstwerke Nürnbergs vor den Bombardements unversehrt. Stadtarchiv Nürnberg

Hier, beim Eingang zum Kunstbunker am Fuss der Nürnberger Burg, erhält man einen Eindruck, wie die Stadt vor dem Krieg ausgesehen haben mag. Dank der Bunker besitzt sie auch heute noch viele ihrer Kunstschätze.

Arnold öffnet zwei dicke Türen und führt uns in die Höhlengänge. In den Kellern herrschen konstante zehn Grad Celsius. Die Vorstellung, stundenlang hier unten eingesperrt zu sein, ist beklemmend. Auch Kinder und Babys waren mit eingepfercht. Die Mütter sollten Handtücher mitbringen, um das Geschrei der Kinder zu dämpfen, berichteten Zeitzeugen.

«Siegerjustiz»?

Die meisten Menschen mögen überlebt haben, ob in den Bunkern und danach obdachlos in der Stadt, oder geflüchtet bei Verwandten oder Fremden in der Umgebung – aber Nürnberg lag 1945 in Schutt und Asche.

Der Justizpalast in Nürnberg.
Legende: Ironischerweise blieb der Justizpalast praktisch unversehrt, sodass ihn die Alliierten für ihren Prozess nutzen konnten. SRF/Bettina Ramseier

Der Justizpalast im Westen der Stadt hat den Krieg wie durch ein Wunder beinahe heil überstanden. Noch heute ist er das grösste Justizgebäude Bayerns. Hier treffen wir Nina Lutz.

Die Alliierten hätten leicht alle liquidieren können.
Autor: Nina Lutz Historikerin

Normalerweise führt die Historikerin Besuchergruppen durch die Stadt. Doch die politische Bildung muss im Moment hinter Corona zurückstehen.

Die Historikerin Nina Lutz.
Legende: Für die Historikerin Nina Lutz sind die Nürnberger Prozesse auch die Geburtsstunde einer wirkungsvollen, internationalen Gerichtsbarkeit. SRF/Bettina Ramseier

Wir sind allein im Gebäude bis auf eine Mitarbeiterin des verwaisten Besucherzentrums, und Nina Lutz zeigt uns den Schwurgerichtssaal 600, wo die Alliierten den Hauptkriegsverbrechern den Prozess machten.

Schwurgerichtssaal 600 im Nürnberger Justizpalast.
Legende: Im Saal 600 des Justizpalastes sind die Hauptangeklagten verurteilt worden. SRF/Bettina Ramseier

Von Siegerjustiz war und ist bis heute die Rede. Das hört Nina Lutz oft auf ihren Führungen, und sie widerspricht jedes Mal: «Die Alliierten hätten sich leicht der Vergeltung hingeben, alle liquidieren können.» Aber wenn Beweise fehlten, habe es Freisprüche gegeben. Die Nürnberger Prozesse brachten das internationale Völkerrecht einen entscheidenden Schritt voran und schufen die Voraussetzung für die späteren UN-Kriegsverbrechertribunale.

Signal des Friedens

Den Schuldspruch einiger weniger empfanden die vielen anderen als Freispruch für sich selbst: «Es war bequem zu sagen, wir waren eine verführte Masse, wir tragen keine persönliche Verantwortung, wir wussten nichts von den Verbrechen.» So interpretiert Nina Lutz die Geschichte. «Das war ein weiteres Ziel der Nürnberger Prozesse: Aufklärung. Die Alliierten wollten der deutschen Bevölkerung anhand von Filmen und Dokumenten zeigen: In eurem Namen und durch eure Unterstützung konnten diese Verbrechen begangen werden.»

Doch eine breite Aufarbeitung der eigenen Geschichte beginnt erst viele Jahre später, Anfang der 1980er. «Es brauchte eine neue Generation, die gefragt hat: Was habt ihr damals gemacht?» Seither sei viel geforscht worden, und Nürnberg gehe offen und kritisch mit der eigenen Geschichte um, sagt Nina Lutz. Von ihrer Stadt solle nie wieder ein anderes Signal ausgehen als das des Friedens.

Geschichte wird man nicht los

Die Erinnerungsarbeit sei wichtig, findet auch Reiner Wagner, insbesondere mit jungen Menschen. Aber die Bedeutung der Geschichte sei heute nur noch gering. Sorgen bereiten ihm höchstens die «Nationalen», wie er sie nennt. Aber er lacht sie weg wie alle düsteren Gedanken. «Die gibt es überall. Hoffentlich bleiben sie bei 15 Prozent hängen!»

Das Nürnberger Kolosseum.
Legende: Die Zeugnisse der Geschichte, wie hier das Nürnberger Kolosseum, geben bis heute Anlass zu Diskussionen. SRF/Bettina Ramseier

Politisch streiten die Nürnberger bis heute, was mit den alten Nazi-Monumenten geschehen soll. Sie zu unterhalten kostet Geld, sie zu modernisieren und umzunutzen noch mehr. Also liegen sie grösstenteils brach und sich selbst überlassen. Doch sie abzureissen, dazu hat sich die Stadt bisher nicht durchringen können. Geschichte wird man eben nicht so leicht los.

10vor10, 6.5.2020, 21:50 Uhr

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