SRF News: Der äthiopische Ministerpräsident Hailemariam Desalegn sagte, er wolle alle politischen Gefangenen freilassen und ein berüchtigtes Gefangenenlager schliessen. Wie ernst ist es ihm damit?
Linda Staude: Es gibt noch viele offene Fragen. So hat er nicht gesagt, wie viele Gefangene in welchem Zeitrahmen freigelassen werden sollen. Ich vermute, es wird etwas passieren, denn nach einer so öffentlichen Ankündigung kann sich Desalegn nicht einfach zurücklehnen und gar nichts tun. Aber in welchem Umfang diese Ankündigung tatsächlich umgesetzt wird, ist noch weitgehend unklar.
Desalegn hat keine Zahlen genannt. Weiss man, wie viele Menschen aus politischen Gründen festgehalten werden und jetzt freikommen könnten?
Es gibt nur Schätzungen. Die erste Frage, die sich stellt, ist: Wie definiere ich überhaupt, was ein politischer Gefangener ist? Es gibt in Äthiopien seit ein paar Jahren ein Gesetz, das als Anti-Terror-Gesetz bezeichnet wird. Unter diesem sind viele Journalisten und Demonstranten eingekerkert worden. Die Zahl der Festgenommenen in den letzten zwei Jahren geht in die über Zehntausende. Gelten sie als politische Gefangene? Es ist schwer zu sagen, von welcher Menschengruppe der Ministerpräsident redet. Menschenrechtsorganisationen gehen von bis zu 2000 Menschen aus, die betroffen sein könnten. Journalisten, Oppositionspolitiker und Demonstranten, die bei Protesten festgenommen worden sind.
Unklar ist auch der zeitliche Rahmen – kann sich Desalegn im schlimmsten Fall also ganz viel Zeit lassen, die Gefangen freizulassen?
Er hat mit seiner gestrigen Pressekonferenz eine gewaltige Erwartungshaltung geweckt. Es gab erste Kommentare von unabhängigen Journalisten und oppositionellen Bloggern, vor allem aus dem Ausland, die schrieben, es müsse nun etwas passieren. Ich glaube nicht, dass Desalegn das Vorhaben auf die ganz lange Bank schieben kann – auch weil es in seiner eigenen Regierungskoalition ein Gerangel um die Macht gibt. Es ist eines auch der Gerüchte darüber, was überhaupt die Ursache für seine Ankündigung war. Er steht also unter Druck.
Es gab viele, zum Teil blutige Proteste in den letzten Jahren in Äthiopien. Was ist der Grund für diese Spannungen?
Ursprünglich ausgelöst wurden sie durch einen Streit um Land. Die Vertreter der Volksgruppe der Oromo, die grösste Volksgruppe in Äthiopien, leben vor allem rund um die Hauptstadt Addis Abeba. Man hatte geplant, dass die Hauptstadt erweitert werden soll. Enteignungen sind in Äthiopien sehr einfach, weil alles Land dem Staat gehört. Aber nachdem den Bauern dort gesagt wurde, dass sie wegziehen müssten, begaben diese sich auf die Strasse.
Der Streit darum, wie die Volksgruppen, die nicht an der Macht sind, behandelt werden, ist allerdings schon viel älter. Diese Gemengelage ist dann hochgekocht. Mit der Folge, dass die Sicherheitskräfte zum Teil sehr blutig vorgegangen sind. Es gab einige Hundert Tote und Massenverhaftungen. Das geht seit zwei Jahren so. Letztes Jahr rief Äthiopien dann den Notstand aus. Der ist bisher nicht aufgehoben worden. Theoretisch wann jeder immer noch willkürlich verhaftet werden.
Die westliche Welt tritt gegenüber Äthiopien sehr vorsichtig auf, weil das Land als grosser Alliierter im Kampf gegen Terror gilt.
Desalegn sagte, er wolle mit der Amnestie die Demokratie in Äthiopien stärken. Was ist da dran?
Um die Demokratie in Äthiopien steht es sowieso nicht ganz zum besten. Bei den Wahlen im Jahr 2015 ist kein einziger oppositioneller Kandidat ins Parlament gekommen. Das heisst, es gibt im Parlament überhaupt keine Opposition, was mit eine Definition von Demokratie wäre. Und wer an der falschen Stelle den Mund aufmacht – das gilt auch für Journalisten, da fast alle Medien in staatlicher Hand sind – wird verhaftet. Es gibt also auch keine freie Information. Viele afrikanische Länder werden von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Die westliche Welt tritt aber gegenüber Äthiopien sehr vorsichtig auf, weil das Land als grosser Alliierter im Kampf gegen Terror gilt. Man ist international also sehr zurückhaltend – was wiederum solche Unterdrückungsmassnahmen im Endeffekt befördert.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.