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Was macht Krieg mit einem Volk?
Aus Rendez-vous vom 04.10.2022. Bild: zvg
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Angriff auf die Ukraine Was der Krieg mit einem Volk macht

Am 24. Februar wurde in der Ukraine vieles anders. Für Millionen Menschen stellte der russische Grossangriff das Leben auf den Kopf. Das Grundvertrauen vieler Ukrainerinnen und Ukrainer wurde erschüttert.

Als der Krieg begann, arbeitete die 33-jährige Natalia Otrischtschenko in der westukrainischen Stadt Lwiw am Zentrum für urbane Geschichte. Als Erstes packten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen praktisch an – als freiwillige Helfer.

Doch dann sagten sie sich, dass sie als Soziologen und Historiker etwas Sinnvolleres tun müssten: Sie müssten versuchen, diesen entscheidenden Moment in der Geschichte der Ukraine zu dokumentieren.

Stundenlange Gespräche

So begannen sie, mit Bürgerinnen und Bürgern strukturierte Gespräche zu führen. Oft stundenlang, manchmal über Tage verteilt und fast immer von Angesicht zu Angesicht. Für Otrischtschenko stand fest, das verantwortungsbewusst, fair und ethisch korrekt zu tun.

Immer wieder ein schlechtes Gewissen

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Legende: zvg

Als das Mikrofon ausgeschaltet ist, erzählt Natalia Otrischtschenko in New York, dass sie sich Tag für Tag frage, ob es legitim sei, was sie tue: «Darf ich eigentlich – obschon lange vor dem Krieg vereinbart und obschon es eine Riesenchance ist – hier in New York, tausende von Kilometern vom Krieg entfernt in grosser Sicherheit forschen? Müsste ich nicht zurückkehren und vor Ort anpacken?» Sichtlich ringt die junge Frau mit ihrer Entscheidung.

«Wir verstehen uns nicht als Psychotherapeuten, nicht als Ermittler für ein Tribunal. Deshalb fokussieren wir nicht auf Traumata, nicht auf Gefühle, sondern auf Schilderungen von Sachverhalten und Erlebnissen», sagt sie, die inzwischen an der Columbia-Universität in New York forscht.

Den Boden unter den Füssen weggezogen

Bei den Befragungen wurde deutlich, wie enorm viel dieser Krieg verändert. Zum Beispiel das Zeitgefühl. Für viele fror die Zeit an jenem 24. Februar 2022 ein. Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainern verloren Haus oder Wohnung, mussten fliehen, erleben den Verlust von Freunden, Familienangehörigen, ihrer Arbeitsstelle.

Plötzlich stellen die Menschen fest, wie wertvoll das ist, was man als selbstverständlich betrachtet.
Autor: Natalia Otrischtschenko Ukrainische Soziologin, arbeitet derzeit in New York

«Plötzlich stellten sie fest, wie wertvoll das ist, was die meisten als selbstverständlich betrachten», sagt Otrischtschenko. Die einen reagierten darauf, indem sie zupackten, andere verkrochen sich in sich selber.

Menschen in einem Ruderboot, dahinter zerstörte Brücke.
Legende: Mit der Invasion der russischen Armee und der Kriegssituation sind viele Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten ausradiert: Die Brücke ist zerstört, es bleibt einzig das Ruderboot zum Überqueren des Flusses. Reuters/Vyacheslav Madiyevskyy

Doch mehrheitlich stellte sie in all den Gesprächen ein verstärktes Solidaritätsgefühl fest. Viele knüpften neue Netzwerke mit Menschen, die sie zuvor gar nicht oder kaum kannten. Offen sei, wie lange diese neue Solidarität anhalte, bevor Brüche sichtbar würden, sagt die Soziologin.

Unterstützung für Präsident Selenski

Gewachsen sei auch das zuvor geringe Vertrauen in die Regierung: «In einer derart bedrohlichen Kriegssituation hat man keine andere Wahl, als der Regierung zu vertrauen», sagt Otrischtschenko. Das gelte auch für die Unterstützung für Präsident Wolodimir Selenski – vor allem, weil sich dieser entschlossen habe, im Land zu bleiben.

Das Grundvertrauen der Menschen wurde erschüttert. Kein Lebensplan ist mehr fix.
Autor: Natalia Otrischtschenko Ukrainische Soziologin, arbeitet derzeit in New York

Gemeinhin geht man davon aus, dass ein brutaler Krieg eine Gesellschaft insgesamt brutalisiere. Das hingegen stellte Natalia Otrischtschenko bisher nicht fest. Weder nehme die häusliche Gewalt, noch die Strassengewalt zu, ebenso wenig die Kriminalität insgesamt.

Grosses Informationsbedürfnis

Deutlich gewachsen sei das Interesse an Informationen. Auf einmal seien sie überlebenswichtig. Damit meint sie indes in erster Linie soziale Medien. Die Leute stützten sich für die Primärinformation massgeblich auf diese. Dennoch seien die klassischen Medien weiter wichtig, nicht für die Nachrichtenvermittlung, doch wenn es ums Erklären, ums Einordnen gehe.

Der entscheidende Punkt aber sei, die junge Soziologin: «Das Grundvertrauen der Menschen wurde erschüttert. Niemand fühlt sich mehr wirklich sicher. Kein Lebensplan ist mehr fix.» Auch ihr eigener nicht.

Rendez-vous, 4.10.2022, 12:30 Uhr

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