Es war der letzte EU-Gipfel des Jahres. Gleich beim ersten Thema Migration gab es Streit?
Sogar sehr lauten Streit. Ausgelöst hat diesen der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk. Inhaltlich geht es um die Verteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedstaaten. Hier möchte die EU eine Regelung für eine nächste Krise. Wenn in einem Mitgliedsstaat überdurchschnittlich viele Flüchtlinge ankommen, sollen diese automatisch auf die anderen Mitgliedstaaten verteilt werden. Es geht also um das hochsensible Thema Solidarität. Tusk hat nun einen solchen Mechanismus grundsätzlich als «nicht effektiv» bezeichnet. Das machen die osteuropäischen Mitgliedstaaten bekanntlich schon lange. Tusk hat damit aber heftigen Widerspruch und heftige Reaktionen ausgelöst.
Wie hat Tusk auf die Reaktionen reagiert?
Tusk hat seine Aussage verteidigt und betont, es sei nicht die Aufgabe des Präsidenten des Europäischen Rates, nur die Position der mächtigen und grossen Mitgliedstaaten nachzubeten. Gemeint ist damit natürlich die Position Deutschlands. Es war offensichtlich sein Ziel, mit einer Provokation eine Debatte auszulösen. Ein Mitarbeiter von Tusk hat mir gesagt, es sei darum gegangen, dass die Staats- und Regierungschefs die unterschiedlichen Befindlichkeiten besser verstünden. Das finde ich schon sehr erstaunlich, dass die Chefs auch nach Jahren der Krise die gegenseitigen Befindlichkeiten noch immer nicht kennen. Wenn das tatsächlich so ist, dann ist eine Debatte wirklich mehr als dringend. Ob es aber eine solche Provokation gebraucht hat, ist eine andere Frage.
Ist eine einvernehmliche Einigung auf einen permanenten Verteilschlüssel bis im nächsten Sommer realistisch?
Das ist nur schwer vorstellbar. Der Widerstand aus Osteuropa ist zu gross. Und Tusk hat diesen Widerstand nochmals bestärkt. Die Alternative wäre, dass die Mehrheit das trotzdem gegen den Willen der Osteuropäer durchsetzt. Auch das ist aber schwer vorstellbar. Denn das gab es schon einmal und das hat dann den Graben zwischen Westen und Osten aufgerissen. Die Konsequenz dürfte sein, dass die Staats- und Regierungschefs dort vorwärtsmachen, wo sie sich einig sind: bei der Sicherung der Aussengrenzen. Das reicht natürlich nicht, denn es braucht auch eine EU-interne Regelung. Ansonsten wird die nächste Krise wieder zu einer Zerreissprobe.
Die Chefs machen jetzt wohl dort vorwärts, wo sie sich einig sind: bei der Sicherung der Aussengrenzen. Das reicht natürlich nicht.
Wie sieht es bei der Reform der Eurozone mit der Idee eines EU-Finanzministers aus?
Heute ging es noch nicht um konkrete Entscheide, sondern um die nächsten Schritte abzustecken. Im Unterschied zur Flüchtlingsfrage waren sich die beiden wichtigsten Player Deutschland und Frankreich hier bemüht, Einigkeit zu demonstrieren. Angela Merkel und Emmanuel Macron traten nach dem Gipfel gemeinsam vor die Medien. Die Frage wird sein, wann Macron eine wirklich handlungsfähige deutsche Regierung als Partnerin hat. Denn nur wenn diese beiden grossen und starken Länder wirklich zusammen vorwärtsschreiten, passiert etwas. Macron mahnte die deutschen Parteien zwar nicht zur Eile. Er betonte aber, dass er sich bis im nächsten März eine neue deutsche Regierung wünsche. Sonst dürfte es auch mit den Reformen knapp werden.
Der Brexit trat angesichts dieser beiden Themen fast etwas in den Hintergrund. Wo steht man da?
Hier haben die Chefs der EU-27 grünes Licht gegeben über Verhandlungen nun auch über das künftige Verhältnis. Das war unbestritten. Das heisst aber nicht, dass über den Brexit nicht mehr gestritten wird – im Gegenteil. Diese Verhandlungen werden mindestens so kontrovers sein wie die bisherigen Verhandlungen.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.