Die Liberaldemokraten in Grossbritannien wollen den Brexit rückgängig machen. Die Partei erfährt derzeit einen Höhenflug. Ihre Fraktion auf der Oppositionsbank im Unterhaus wird immer grösser – und bei Wählerumfragen ist sie daran, der Labour-Partei den zweiten Platz streitig zu machen. Irina von Wiese, Abgeordnete der «Lib Dems» erklärt, was die Partei richtig macht.
SRF: Die Gegner des Brexits wählen die Liberaldemokraten, das ist sicher ein wichtiger Faktor. Aber ist es nicht zu wenig für einen anhaltenden Erfolg, einfach gegen den Brexit zu sein?
Irina von Wiese: Natürlich geht es nicht nur darum den Brexit zu stoppen. Wir haben ein volles Programm für die Umwelt, für soziale Themen und für Grossbritannien, das ganz wichtig ist. Nur leider steht der Brexit im Weg. Wir müssen den Brexit zunächst stoppen, damit wir alle diese Ideale verwirklichen können. Das ist unser erstes Ziel.
Das britische Volk hat für den Brexit gestimmt, ihre Partei will das quasi rückgängig machen. Ist das nicht undemokratisch?
Vor über drei Jahren hat eine geringe Mehrheit der Briten für einen Austritt aus der EU gestimmt. Es hat aber keiner für das gestimmt, was jetzt passiert – nämlich ein chaotischer Austritt ohne irgendein Abkommen. Wir wollen zurück an das Volk gehen und fragen, ob sie wirklich diese Art von Brexit wollen oder nun doch in der EU verbleiben wollen, nachdem man gesehen hat, was für Konsequenzen ein chaotischer Brexit haben könnte. Wir sind zuversichtlich, dass viele Menschen ihre Meinung geändert haben. Das halte ich für demokratisch.
Die «Lib Dems» hatten aber auch magere Zeiten. Was hat sich denn jetzt – ausser dem Brexit – in der britischen Gesellschaft geändert, dass nun mehr Leute sie wählen wollen?
Was sich geändert hat, ist vor allem eine Polarisierung unserer Gesellschaft. Wir sehen nicht nur in Grossbritannien, dass sich die Fronten verhärten. Dass Linke nach ganz links aussen und Rechte nach ganz rechts geht – derweil die Mitte einfach nicht mehr da ist. Diejenigen, die sich nach wie vor für offene liberale demokratische Werte aussprechen, haben kein politisches Zuhause mehr. Wir sind als Liberaldemokraten eigentlich die einzige Partei, die im Zentrum geblieben ist.
Aufgrund des politischen Systems ist praktisch auszuschliessen, dass die «Lib Dems» an die Macht kommen – auch wenn sie in der Wählergunst derzeit immer besser abschneiden. Ist das nicht frustrierend?
Das sehe ich nicht mehr so. Ich glaube wir haben das Zeitalter des Zweiparteiensystems endgültig hinter uns gelassen. Wir sehen bei Wahlvoraussagen, dass die Liberaldemokraten an zweiter oder dritter Stelle stehen – in London sogar an erster Stelle, nur wenige Punkte vor oder hinter den beiden grossen Parteien. Mindestens drei, vier oder fünf Parteien sind dabei, die Konservativen und Labour herauszufordern. Unser Ziel ist es, dass die Liberaldemokraten bei Wahlen die stärkste Fraktion werden.
Ihre Parteichefin Jo Swinson sagt: Boris Johnson ist unfähig zu regieren und auch Labour-Parteichef Jeremy Corbyn wäre ein untauglicher Regierungschef. Sie schliesst also aus, dass die «Lib Dems» nach Neuwahlen in eine Koalition treten würden. Wie würden sie denn regieren?
Das ist richtig: Keine Koalition! Wir haben schlechte Erfahrungen mit einer Koalition gemacht. Weder Johnson noch Corbyn sind in irgendeiner Weise akzeptabel. Wir hoffen, dass wir eine regierungsfähige Mehrheit und eine Premierministerin Jo Swinson bekommen werden. Ich denke, dass wir das erreichen.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.