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Chile Polizeigewalt: Protestierende stehen vor noch härterem Geschütz

Vor einem Jahr begannen in Chile die Proteste. Die Ungleichheit ist durch Corona gewachsen und die Polizei hat aufgerüstet.

Die Bilder gingen um die Welt: Ein 16-jähriger Demonstrant stürzt am 2. Oktober von einer Brücke in Santiago de Chile, er ist umgeben von Polizisten. Ein Unfall, erklärt die Polizei schnell. Doch wenn man sich die Bilder in Zeitlupe anschaut, ist deutlich zu sehen: Es ist ein Polizist, der den Jungen in den Fluss stösst. Dieser überlebt knapp.

Der Innenminister stärkt der Polizei den Rücken: Der Polizist habe dem Jungen keinen Schaden zufügen wollen. Dennoch sitzt der Polizist in Untersuchungshaft – zu klar ist die Beweislage. Die Staatsanwältin, die das Gericht in einer öffentlichen Online-Sitzung davon überzeugte, wird bedroht.

Amnesty International fordert Strafuntersuchung

Letzte Woche forderte Amnesty International eine Strafuntersuchung gegen die Polizeidirektion wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen an Demonstrierenden.

4000 registrierte Vorkommnisse bei Protesten

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Während der Proteste Ende 2019 hat das Nationale Menschenrechtsinstitut in Chile 4000 Vorfälle gezählt, davon waren bei 1900 Gummigeschosse im Spiel. 460 Menschen sind an den Augen verletzt worden, einige davon erblindet. Nie zuvor, nirgendwo auf der Welt, habe es jemals eine so grosse Zahl von schweren Augenverletzungen durch Aufprall in so kurzer Zeit gegeben wie in Chile, urteilte der Vize-Präsident der Ärztekammer, Patricio Mesa: «Nicht einmal in Ländern mit kriegerischen Konflikten.»

«Die Polizei müsste von Grund auf neu gegründet werden», fordert Natalia Aravena. Ein Polizist schoss der Krankenschwester vor einem Jahr eine Tränengasgranate aus nächster Nähe direkt ins linke Auge. Sie trägt nun eine Augenprothese: «Eigentlich würde ich gerne zu den Demonstrationen gehen, denn die Forderungen unterstütze ich natürlich nach wie vor: Kostenlose Bildung, würdige Renten, würdige Löhne, eine gute Gesundheitsversorgung. In der Pandemie hat sich die Ungleichheit noch weiter verstärkt. Aber, ich traue mich nicht.»

Erneute Strassenschlachten

Nach monatelanger Corona-Ausgangssperre sind die Proteste nun neu entfacht. Am letzten Sonntag, dem Jahrestag des Ausbruchs der Proteste, gingen wieder Zehntausende auf die Strassen: Gegen die Regierung, gegen die Polizeigewalt – sie unterstützen das Plebiszit für eine neue Verfassung am 25. Oktober.

Viele haben Angst vor der Pandemie und vor der Polizei: «Wir müssen trotzdem demonstrieren, zusammenhalten», sagt die Künstlerin Ivette Riquelme. Sie trägt einen Sonnenschirm, daran baumeln weisse Kugeln, bemalt als wären sie Augäpfel – zum Gedenken an die Verletzten, die durch Tränengas-Geschosse ihr Augenlicht verloren.

Die Demonstration ist zunächst ein gigantisches Fest. Doch am Ende gibt es wieder Strassenschlachten zwischen der Polizei und den Protestierenden. Die traurige Bilanz: 580 Menschen werden an diesem Tag verhaftet. Ein Mensch wird von Polizeigeschossen getroffen und stirbt. Vermummte zünden eine polizeieigene Kirche an, lassen sich dabei sogar filmen. Bekannt ist bisher nur: Unter den Verhafteten ist ein Angehöriger der Kriegsmarine.

Die Polizei nutzt die modernen Waffen nicht, um die Demonstrationen zu kontrollieren und das Demonstrationsrecht zu schützen. Sondern, um Gewalt auszuüben.
Autor: Marta Cisterna Aktivistin

Menschenrechtsbeobachter haben Sorge, dass die Gewalt weiter eskalieren könnte. Die Polizei habe nicht weniger, «sondern mehr Equipment als im Vorjahr. Darunter noch gewaltigere Wasserwerfer», sagt Marta Cisterna. Mit ihrem Team geht sie auf Demonstrationen und dokumentiert das Vorgehen der Polizei. Die Berichte gehen unter anderem an die Vereinten Nationen.

Die Polizei nutze die «modernen Waffen nicht, um die Demonstrationen zu kontrollieren und das Demonstrationsrecht zu schützen. Sondern, um Gewalt auszuüben. So wird ein Klima geschaffen, von dem niemand etwas hat.»

10vor10, 19.10.20, 21:50 Uhr

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