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Corona in Russland Ausserhalb Moskaus droht der Kollaps

Die Hilferufe aus den russischen Regionen mehren sich. Doch das Ausmass der Pandemie will der Kreml nicht eingestehen.

Dem Gesundheitssystem in mehreren Regionen Russlands scheint der Kollaps unmittelbar bevorzustehen. Vom Süden Russlands bis ins östliche Sibirien versuchen Angehörige und medizinisches Personal, sich Gehör zu verschaffen. Sie schreiben Briefe an den Präsidenten oder fahren gar mit dem Sanitätswagen vor das Gesundheitsamt, wenn die Krankenhäuser keine neuen Patienten mehr aufnehmen können.

Offiziell gesteht selbst die russische Regierung seit vergangener Woche eine problematische Situation in 16 Regionen des Landes ein. Die Regionen zu nennen, darauf wollte Wladimir Putin beim Treffen mit Regierungsvertretern allerdings verzichten. Angesichts der intransparenten Kommunikation ist es nicht möglich, die Anzahl der schwer betroffenen Regionen zu überprüfen.

Patienten müssen in Treppenhäusern liegen

Videos aus Spitälern mit Patienten, die auf Gängen und in Treppenhäusern liegen müssen, teilweise auf Sitzbänken, da es an Betten fehlt, kursieren seit mehreren Wochen in sozialen Netzwerken in Russland. Traurige Berühmtheit erlangte die Stadt Rostow im Süden des Landes. Bereits Anfang Oktober gab es in der gesamten Region keine freien Betten mehr, Ärzte liessen sich aufgrund fehlender Schutzmassnahmen durch die Behörden krankschreiben.

Skandal um erstickte Patienten

Die sich abzeichnende Katastrophe trat Mitte Oktober ein, als 13 Patienten, angeschlossen an Sauerstoffgeräte, in einer städtischen Klinik erstickten. Die genauen Umstände, die zur zweistündigen Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr führten, sind noch unklar. Doch dem Personal blieb laut Berichten in russischen Medien keine andere Wahl, als neben den Patienten zu stehen und mit ihnen zu sprechen.

Nachdem der Fall landesweit für Schlagzeilen sorgte, wurde die regionale Gesundheitsministerin entlassen und eine Untersuchung eingeleitet. Ein Gespräch mit SRF lehnten mehrere behandelnde Ärzte ab. Sie befürchten negative Konsequenzen, sollten sie mit Journalisten sprechen. Eingeschüchtert hat sie ein umstrittenes Verbot des Gesundheitsministeriums gegenüber medizinischem Personal, sich öffentlich zur Pandemie zu äussern.

«Statistik aus dem Hut gezaubert»

Das Ausmass der Pandemie zu vertuschen, wird den russischen Behörden nicht erst seit Beginn der zweiten Welle vorgeworfen. Bereits im Juli verlor der russische Demografe Alexej Rakscha seine Stelle beim Amt für Statistik, nachdem er den Behörden vorgeworfen hatte, die Covid-19-Statistik zu manipulieren.

Gegenüber SRF sagt Rakscha, dass die offizielle Zahl der Covid-19-Todesopfer in Russland (Stand 3. November), mit dem Faktor vier multipliziert werden müsse. Demzufolge wären nicht 28'828, sondern mehr als 115'000 Personen an Covid-19 verstorben. «Wenn ich die in Russland veröffentlichte Statistik sehe, möchte ich gleichzeitig lachen und weinen. Die Zahlen werden auf nationaler Ebene überarbeitet. Da sich jede Region die Zahlen für die Todesstatistik aus dem Hut zaubert, springt die Statistik auf nationaler Ebene rauf und runter.» Aber ganz oben verlange man beschönigte Zahlen, so Alexej Rakscha.

Selbstkritische Worte zu den publizierten Zahlen sind aus dem Kreml keine zu hören. Am vergangene Donnerstag hat man besonders betroffenen Regionen finanzielle Hilfe zugesichert. Welche Region wie stark unterstützt werden soll, wird nicht bekanntgegeben.

Radio SRF4 News Heute Morgen, 30. Oktober 2020

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