In Israel gelten sehr strenge Massnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus. Es ist verboten, sich mehr als 100 Meter von der Wohnung zu entfernen. Abstand halten ist das oberste Gebot, und es gilt eine Maskenpflicht. Das sei nun auch bei den ultraorthodoxen Gemeinschaften angekommen, wie Natan Sznaider von der Universität Tel Aviv sagt.
SRF News: Wieso ist die Infektionsrate bei ultraorthodoxen Gemeinschaften in Israel viel höher als in der restlichen Gesellschaft?
Natan Sznaider: Massnahmen sind Regeln, an die man sich halten kann, wenn man weiss, warum sie wichtig sind. Doch in ultraorthodoxen Gemeinschaften gibt es kein Internet, kein Smartphone, kein Fernsehen. Dazu kommt, dass die Leute eng zusammenleben.
In ultraorthodoxen Gemeinschaften gibt es kein Internet, kein Smartphone, kein Fernsehen.
Wenn man auf 60 bis 70 Quadratmeter mit zehn Menschen in einer Wohnung lebt, dann kann man keine soziale Distanz halten. Es war kein bewusster Wille, die Regeln zu brechen.
Hat sich daran etwas geändert?
Es fand schliesslich ein Austausch mit anderen ultraorthodoxen Gemeinschaften ausserhalb Israels, in London und New York statt. Da hat man gesehen, dass es viele Ansteckungen gegeben hat. Langsam hat man verstanden, worum es geht, und der Druck der israelischen Behörden wurde stärker. Man hat inzwischen gewisse orthodoxe Gemeinschaften auch abgeriegelt. In Bnei Brak, einer ultraorthodoxen Stadt nicht weit von Tel Aviv, ist die Zahl der Infizierten zehnmal so hoch wie in Tel Aviv.
In Gemeinschaften, in denen das Soziale über allem steht und in denen soziale Distanz nicht nur praktisch, sondern auch ideell gleichbedeutend mit sozialem Tod ist, hat es länger gedauert. Es hat auch damit zu tun, dass Ultraorthodoxe in anderen Zeitdimensionen leben. Für individuelle Menschen ist das Überleben das Allerwichtigste. Bei Ultraorthodoxen ist es das Überleben der Gemeinschaft.
Es geht um Solidarität. Warum machten die Ultraorthodoxen so lange nicht mit?
Ihre Solidaritätsstrukturen laufen anders. Sie leben Solidarität nach innen und unter sich. Der Staat Israel hat ultraorthodoxen Gemeinschaften seit der Staatsgründung eine gewisse kulturelle, soziale und fast schon politische Autonomie überlassen. Sie haben ihr eigenes Schulsystem, sie sprechen überwiegend jiddisch – nicht hebräisch – und dienen nicht in der Armee. Sie lebten in einer Form kultureller Autonomie, die für viele Israelis zwar nicht wirklich akzeptabel war, aber die man irgendwie mitgenommen hat, weil man eine gewisse Verantwortung für diese jüdischen Traditionen sieht.
Nun hat sich diese Autonomie gerächt. Die Ultraorthodoxen müssen Teil des israelischen Kollektivs werden, um weiterhin überleben zu können. Das mussten sie erst einmal begreifen.
Das Virus hat aus vielen verschiedenen Gemeinschaften quasi einen Nationalstaatsbürger geschaffen.
Sie lehnen den Staat ab und bezahlen auch keine Steuern, aber sie lassen sich auf den israelischen Intensivstationen behandeln. Wie passt das zusammen?
Jetzt muss es zusammenpassen. Das ist nicht nur bei ultraorthodoxen Gemeinschaften so. Das Virus hat aus vielen verschiedenen Gemeinschaften quasi einen Nationalstaatsbürger geschaffen. Für die Leute ist es ganz normal, dass sie auf die Intensivstationen kommen. Die Mauern, die zwischen säkularen Israelis und ultraorthodoxen Gemeinschaften lange existiert haben, werden durch dieses Virus eingerissen. Ich glaube nicht, dass man – wenn es mal vorbei ist – wieder zum Status quo von vorher zurückkehren kann.
Das Gespräch führte Marlen Oehler.