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Das Saudi-Paradox Warum der Gottesstaat den gesellschaftlichen Wandel vorantreibt

Saudi-Arabien wandelt sich rasant. Doch auf soziale Reformen folgen Verhaftungen. Wohin steuert das Land?

Die Veränderungen sind sofort sichtbar: In der langen Schlange vor der Einreisekontrolle auf dem König-Khalid-Flughafen in Riad stehen Frauen ohne Kopftuch. Bei unserem letzten Besuch vor eineinhalb Jahren wäre das noch undenkbar gewesen. Und die Frauen legen das Kopftuch auch nicht an, als sie den verschleierten Zollbeamtinnen oder den in langes Weiss gekleideten Zollbeamten gegenüberstehen.

Und genauso geht es weiter. In der Hotel-Lobby, im Restaurant, im Einkaufszentrum. Selbst auf der Strasse. Das Kopftuch bleibt immer häufiger locker um den Hals gelegt, statt um den Kopf geschlungen.

Frauen joggen durch die Strassen in Jeddah. Einige verschleiert, andere nicht.
Legende: Frauen laufen während einer Veranstaltung anlässlich des Internationalen Frauentages in Jeddah. Manche tragen ein Kopftuch, andere nur eine Mütze. Reuters

Entspannung des öffentlichen Lebens

Es ist die Folge des wohl wichtigsten Schritts, den Kronprinz Mohammad bin Salman kurz nach seiner Ernennung angekündigt hatte: Das Königshaus hat der Religionspolizei die Macht genommen, Menschen aufgrund «unsittlichen Benehmens» festzunehmen. Die Beschneidung der Macht der unbeliebten Religionspolizei war ein grundlegender Schritt. Erst durch diesen Wandel wurden viele weitere Reformen erst möglich, wie etwa das absehbare Ende der Trennung der Geschlechter in der Öffentlichkeit, oder die grundsätzlich prominentere Rolle der Frauen in Saudi-Arabien.

Die Folgen sind spür- und sichtbar: Das öffentliche Leben in den grossen Städten, wie der Hauptstadt Riad oder in Jeddah, der Hafenstadt am Roten Meer, ist so entspannt und zwanglos wie in vielen anderen Städten dieser Welt auch.

Früher mussten die Saudis ein Doppelleben führen: eines zuhause, wo sie sich geben konnten, wie sie wollten. Und eines in der Öffentlichkeit. Das ist nun vorbei.

Freier aber immer noch vorsichtig

«Done hiding» steht auf dem Instagram-Account von Nourah al-Ammary. «Ich habe mich die längste Zeit versteckt. Das ist nun vorbei.» Nourah al-Ammary ist Sängerin und tritt ohne Kopftuch auf.

Der Soho Club in der Innenstadt von Riad ist rappelvoll an diesem Abend. «Wir können es selbst kaum glauben. Es ist wie in einem Traum. Einem Traum, der wahr geworden ist», schildert Nourah al-Ammary. Zusammen mit dem amerikanischen Sänger und Gitarristen Sean Elliott Carey singt sie westliche Coversongs.

Das ist die neue Normalität. Das heisst, wir sind immer noch dabei, uns daran zu gewöhnen.
Autor: Nourah al-Ammary Sängerin

Vor einem Publikum, das bunt gemischt ist: Da ist die junge Saudi, die ihr Gesicht bis auf die Augen hinter schwarzem Tuch verbirgt. Daneben sitzt eine ältere Dame ohne Kopftuch und mit weit offener Abbaya, dem langen Gewand, das Frauen immer noch tragen in der Öffentlichkeit. Künstlertypen sitzen neben Kollegen in traditionellen Beduinengewändern. Frauen neben Männern.

Publikum im Comedy Club in Jeddah.
Legende: Auch im Comedy Club von Jeddah ist das Publikum bunt gemischt. Für Lacher sorgen vor allem Witze über alltägliche Beobachtungen. Über Themen wie Religion oder Sex wird jedoch nicht gescherzt – sie verärgern die Zuschauenden nur. SRF

«Das ist die neue Normalität. Das heisst, wir sind immer noch dabei, uns daran zu gewöhnen. Denn es ist ja erst seit einem Jahr erlaubt, in der Öffentlichkeit aufzutreten und Konzerte zu geben.» Nourah al-Ammary sprüht vor Energie und Tatendrang. Gleichzeitig weiss sie, dass die Öffnung Grenzen hat: «Wir sind immer noch am Abtasten. Ich fühle mich zwar inzwischen wohl in meiner Haut, wenn ich ohne Kopftuch auftrete. Aber ich bin immer noch vorsichtig und nehme Rücksicht auf die kulturellen Empfindlichkeiten. Wir sind schliesslich immer noch in einem arabischen muslimischen Land.» Lieder über Sex oder Drogen zum Beispiel meidet sie. Und über Politik sprechen wir nicht einmal.

Klare Machtverhältnisse

Denn politische Kritik oder gar eine abweichende politische Meinung ist im Königreich nach wie vor nicht toleriert. Im Gegenteil. Am selben Tag, an dem wir in Riad landen, werden zwölf Blogger, Journalisten und Menschenrechtler verhaftet. Einige der Frauen, die für das Recht, Autofahren zu dürfen gekämpft hatten, sitzen immer noch im Gefängnis. Verhaftet worden waren sie kurz bevor den Frauen das Autofahren erlaubt wurde.

Damit wollte das Königshaus zeigen, dass die neuen sozialen Freiheiten nicht Konzessionen gegenüber einer mündigen Bürgerschaft waren, sondern vom Königshaus gewollte Massnahmen, die von oben herab umgesetzt werden, und zwar unabhängig davon, ob die Untertanen dies überhaupt wollen oder nicht.

Wirtschaftlich notwendig

Dabei ist das kaum eine Frage. «Wir haben in den eineinhalb Jahren, seitdem Frauen Autofahren dürfen, 80'000 Fahrausweise ausgestellt», sagt Abrar al-Muhaysini während sie uns durch Riad chauffiert. Wir fahren zur grössten Frauen-Fahrschule des Königreichs in Riad, wo Abrar al-Muhaysini im Leitungsteam ist.

Auf einem riesigen Gelände übt ein gutes Dutzend Fahrschülerinnen gerade, seitwärts rückwärts zu parkieren. Eine von ihnen ist Nermine Awwad. «Weshalb ich Autofahren lerne?», fragt sie.«Ganz einfach: Manchmal kann der Fahrer einen nicht fahren oder der Ehemann ist auf Reisen oder zu beschäftigt. Ich habe Kinder, die muss ich zur Schule bringen. Und ich muss an meinen Arbeitsplatz gelangen. Das sind die Gründe.»

Es sind Gründe wirtschaftlicher Notwendigkeit. Denn das Königreich Saudi-Arabien leidet. Seitdem der Ölpreis 2014 gefallen ist, sind die Einnahmen dramatisch zurückgegangen. Und seitdem die sozialen Unruhen immer mehr arabische Länder befallen, muss das Königshaus immer mehr Geld ausgeben, um die Bevölkerung ruhig zu stellen. Kommt hinzu, dass diese Bevölkerung stetig wächst, und dass mehr als die Hälfte der Saudis jünger ist als 30.

Deshalb will der junge Kronprinz das Königreich mit seiner sogenannten «Agenda 2030» von der Abhängigkeit vom Öl wegführen und in eine technologiegetriebene Entrepreneur-Wirtschaft umwandeln.

Bild von Mohammad bin Salman an einer Wand in Jeddah.
Legende: Mohammad bin Salman will die saudische Gesellschaft in eine Start-up-Gesellschaft umwandeln. Das geht nur, wenn die Menschen mehr Freiheiten haben. Ein Paradox. SRF

Die Freiheit, dass Frauen Autofahren dürfen, ist dem Zwang geschuldet, dass sie in der Wirtschaft gebraucht werden. Und wenn sie am Arbeitsplatz zu einem Faktor werden sollen, müssen sie sich eben frei bewegen können. Und so weiter und so fort.

Kaum Zeit, sich an die Veränderungen zu gewöhnen

Das Problem ist: Mit den Freiheiten wachsen auch die Ansprüche. Und mit halben Freiheiten ist der wirtschaftliche Wandel nicht zu schaffen. Das weiss auch Reem Bakhet. Wir sitzen auf einer Tauchbasis am Roten Meer. Am Horizont ragen die Hochhäuser von Jeddah in den Himmel. Der Himmel ist strahlend blau und es ist warm, gute 30 Grad. Im Dezember.

Reem Bakhet ist Tauchlehrerin. Eine der ersten in Saudi-Arabien. «Die Veränderungen geschehen rasend schnell. Wir nehmen uns kaum Zeit dazu. Die Folge ist, dass viele Familien das Gefühl haben, der Boden drehe sich unter ihren Füssen.»

Aber was würden die Nachbarn sagen? Ich muss doch meine Familie vor bösem Geschwätz schützen!
Autor: Reem Bakhet Tauchlehrerin

Dabei bezeichnet sich Reem Bakhet selber als konservativ. «Gestern zum Beispiel hat mich meine 18-jährige Tochter gefragt, ob ihr Tauchpartner am Abend zu uns kommen dürfe. Ich wollte es ihr eigentlich erlauben, denn ich wusste, dass nichts passieren würde. Aber was würden die Nachbarn sagen? Der Fahrer? Ich muss doch meine Familie vor bösem Geschwätz schützen! Und das ist nur ein Dilemma von vielen.»

Untertanen sollen dennoch keine Bürger werden

Das Königshaus steckt in ähnlichen Dilemmata. Es will die Reformen vorantreiben, weil es eine wirtschaftliche Notwendigkeit ist. 70 Prozent der saudischen Staatseinnahmen stammen aus dem Öl-Export. Aber wenn die saudische Gesellschaft sich so weiterentwickelt wie zuletzt, werden die Saudis bis 2034 mehr Öl auf dem heimischen Markt verbrauchen, als sie exportieren können.

Und der Thronfolger hat noch ein anderes Problem: Mohammad bin Salman wurde so jung Kronprinz, dass er nicht wie seine Vorgänger Jahrzehnte lang Zeit hatte, sich eine Machtbasis am Hof aufzubauen. Also setzt er auf die unter Dreissigjährigen, welche die Bevölkerungsmehrheit ausmachen in Saudi-Arabien. Bei ihnen kommen seine Reformen an. Mit den Widersprüchen können die meisten leben, solange es ihnen wirtschaftlich gut geht. Also versucht der Kronprinz, bei dieser Bevölkerungsschicht seine persönliche Legitimation zu stärken.

Dass sein Ziel nicht ist, die saudischen Untertanen zu Bürgern werden zu lassen, ist dabei offensichtlich. Der saudische Kronprinz treibt den Wandel voran, damit alles so bleibt, wie es ist.

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