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Debatte nach Frankfurt-Mord «Die Instrumentalisierung des Mordes muss uns zu denken geben»

Die Tat in Frankfurt ist verstörend: Ein Junge wird vor den Zug gestossen und stirbt. Der mutmassliche Täter ist ein Eritreer. Die Reaktionen darauf in Deutschland sind enorm, der Tod des Jungen wird politisch instrumentalisiert, teils richtiggehend ausgeschlachtet. Jeder Eritreer, jeder Ausländer wird zum potenziellen Täter. Um dieser Haltung entgegenzuwirken, braucht es Courage im privaten Umfeld, so Soziologe Wilhelm Heitmeyer.

Wilhelm Heitmeyer

Soziologe

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Wilhelm Heitmeyer ist Soziologe und Konfliktforscher an der Universität Bielefeld und untersucht seit Jahrzehnten die Ursachen von Rechtsextremismus, Gewalt und Fremdenfeindlichkeit.

SRF News: Fremdenfeindlichkeit ist ein tief sitzendes Unbehagen gegenüber dem Fremden. Dieses Gefühl flackert nach einer solchen Tat auch bei Menschen auf, die sich nicht am rechten politischen Spektrum verorten. Können Sie das nachvollziehen?

Wilhelm Heitmeyer: Wir sprechen in unseren Untersuchungen von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Das heisst, dass Menschen allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit und unabhängig von ihrem individuellen Verhalten in Abwertung, Diskriminierung und Gewalt hineingeraten.

Bahnhof Frankfurt mit Blumen.
Legende: «Was sich im Bahnhof abgespielt hat, war nicht vorhersehbar und zerstört das Grundvertrauen in den öffentlichen Raum», so Soziologe Heitmeyer. Keystone

So kommt es wie in diesem Fall dazu, dass aufgrund eines Menschen aus Eritrea die ganze Gruppe verantwortlich gemacht wird. Diese Verallgemeinerungen und fehlenden Differenzierungen sind das grosse Problem. Vor kurzem verletzte in Südhessen ein Deutscher einen Flüchtling aus Eritrea mit sechs Schüssen schwer. Da war aber nirgends zu hören, dass alle Deutschen potenzielle Mörder seien, während das bei Minderheitengruppen sehr schnell passiert.

Warum passiert das so schnell?

Gruppengrenzen werden politisch aufgeheizt und hart gezogen. Das hat etwas mit der politischen Instrumentalisierung zu tun, die in Deutschland und anderen Ländern seit einiger Zeit um sich greift. Neben der Verstörung dieses Mordes ist das der zweite Punkt, der uns zu denken geben muss. Was in der deutschen Gesellschaft und anderen europäischen Gesellschaften nun geschieht.

Logo AfD.
Legende: Dass die AfD das Ereignis als Gruppenphänomen und nicht als Tat eines Einzelnen bezeichne, mache die Sache politisch gefährlich, meint Heitmeyer. Keystone

Der Hintergrund ist das Spüren von Kontrollverlust. Was sich im Bahnhof abgespielt hat, war nicht vorhersehbar und zerstört das Grundvertrauen in den öffentlichen Raum. Das wiederum wird schliesslich instrumentalisiert.

Ist es einfacher und salonfähiger geworden, sich dem Gefühl der Fremdenfeindlichkeit hingeben zu können?

Ja, diese Klimaverschiebungen sind seit einigen Jahren zu beobachten. Wir hatten bereits im Jahr 2002 Langzeituntersuchungen durchgeführt und festgestellt, dass etwa 20 Prozent in Deutschland rechtspopulistische Einstellungen haben. Fremdenfeindlichkeit aber auch autoritäre Aggression, gegen kulturelle Störer vorzugehen.

Politische Gruppen wie die AfD betreiben eine Ideologie der Ungleichwertigkeit.

Das Phänomen ist nicht neu. Die Zuspitzung existiert in Deutschland seit 2015, als die Einstellungsmuster in der AfD einen politischen Ort hatten. Bei der AfD ist übrigens kein Rechtspopulismus, sondern vielmehr ein autoritärer Nationalradikalismus festzustellen. Deshalb wundert es auch nicht, dass die AfD das Ereignis als Gruppenphänomen und nicht als Tat eines Einzelnen bezeichnet. Das macht die Sache politisch gefährlich.

Was brauchen wir für Werkzeuge, um dem Mangel an Differenzierung entgegenzuwirken?

Da helfen im Grunde nur zwei basale Grundwerte und Haltungen. Das eine ist der Punkt der Gleichwertigkeit von Menschen und der psychischen und physischen Unversehrtheit. Politische Gruppen wie die AfD betreiben eine Ideologie der Ungleichwertigkeit.

Ohne Intervention im Alltag wird es nicht funktionieren. Da können uns die Politiker auch nicht weiterhelfen.

Man kann andere abwerten, ohne dabei ein schlechtes Gefühl zu haben. Zum anderen kann uns die expressive Gewalt auf diesem Bahnsteig jederzeit treffen. Da müssen wir mit der nun geschürten Angst und dem Kontrollverlust vorsichtig sein. In diesem Zusammenhang wird versprochen, dass die Kontrolle wieder hergestellt wird, in dem Ausländer ausgrenzt und zurückführt werden.

Blumen an Bahnhof.
Legende: Nach wie vor herrscht in Deutschland Fassungslosigkeit über das Verbrechen. Keystone

Gegen diese Muster muss im Alltag vorgegangen werden. Es kostet allerdings viel, wenn in der Familie und im Freundeskreis gegen solche abwertenden und menschenfeindlichen Sprüchen angekämpft wird. Man will seine Freunde und Verwandten ja nicht verlieren. Aber ohne Intervention im Alltag wird es nicht funktionieren. Da können uns die Politiker auch nicht weiterhelfen.

Das Gespräch führte Simone Hulliger.

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