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Demonstranten gegen Polizei Darum kommt Hongkong nicht zur Ruhe

Was vor einem halben Jahr als friedlicher Protestmarsch gegen die Regierung begann, hat sich zu heftigen Gewaltausschreitungen hochgeschaukelt. Die Fronten zwischen Studenten und Polizei sind verhärtet.

Deswegen ist Hongkong in der Gewaltspirale gefangen: Die Zusammenstösse zwischen der Polizei und den Demonstranten haben zu zwei gefährlichen Fronten geführt. Nach ersten Todesfällen stieg die Gewaltbereitschaft bei den Demonstrierenden. Sie reagieren mit Petrolbomben, setzen Polizeiautos in Brand, errichten Barrikaden. Auch haben sie einen Chinesen in Brand gesteckt. Videos zeigen wiederum, wie die Polizei mit scharfer Munition auf mehrere Menschen feuert. Die Demonstranten und Demonstrantinnen filmen die Polizeieinsätze, die Polizei veröffentlicht ihrerseits diskreditierendes Material – fernab der Front tobt ein Krieg um Wörter, Bilder und deren Auslegung.

So haben die Proteste angefangen

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Auslöser für die Proteste im Juni war ein geplantes Auslieferungsgesetz, das es Hongkongs Behörden erlauben wollte, von China beschuldigte Personen an die Volksrepublik auszuliefern. Das Gesetz wurde Anfang September von der Regierung zurückgezogen, nachdem die Protestmärsche Hunderttausender nicht abrissen und Hongkong in die schwerste politische Krise seit der Übergabe der Stadt an die Volksrepublik China gestürzt wurde.

Deshalb werden die Lokalwahlen zum nationalen Politikum: Am Sonntag wählt Hongkong in seinen 18 Stadtbezirken neue Bezirksräte. Hongkongs Regierung versichert immer wieder, dass die Demonstrierenden nur einen Bruchteil der Bevölkerung auf ihrer Seite haben. Die Wahl könnte die Chinatreuen abstrafen und zum Gesichtsverlust führen. Die Regierung erwägt, sie in letzter Minute wegen «Sicherheitsbedenken» zu verschieben.

Polizist schlägt Demonstrant
Legende: Viele Demonstranten filmen die Zusammenstösse mit der Polizei. Getty Images

Das geschah rund um die Polytechnische Universität: Die Universitäten haben sich zu Brennpunkten der Proteste entwickelt. Übers Wochenende hat sich die Situation um die Polytechnische Universität im Viertel Hung Hom dramatisch zugespitzt. Studenten verschanzten sich im Gebäude der Hochschule. Sie rüsteten sich mit Brandbomben und Bogen und Pfeil. Die Demonstranten lösten einen Brand aus, während die Polizei sie einkesselte, um sie festzunehmen. Aktuell sind noch etwa 100 Studenten in der Universität, 600 haben das Gelände verlassen.

Demonstranten zündeten ausserhalb der Polytechnischen Universität ein Polizeiauto an, auf der Brücke kam es zu Zusammenstössen.
Legende: Demonstranten zündeten ausserhalb der Polytechnischen Universität ein Polizeiauto an, auf der Brücke kam es zu Zusammenstössen. Getty Images

Wer sind die Frontline Fighters? Die Demonstranten an der Front sind meist Studenten, die den Kampf für ihre Forderung seit Monaten führen. Sie sind extrem gut organisiert, aber führerlos. Es gibt die First Aiders, die sich um Verletzte kümmern, diejenigen, die Gasmasken verteilen, und solche, die Kundgebungen organisieren. Es gibt aber auch jene, die bereit sind, an der Front zu kämpfen und selber Gewalt auszuüben. Einige First Aider, die aktuell noch immer in der Universität eingeschlossen sind, distanzierten sich am Morgen in einem öffentlichen Brief von der Gewalt.

Das sind die Forderungen der Demonstranten

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Mit dem Rückzug des Auslieferungsgesetzes demonstrierte Regierungschefin Carrie Lam zwar Entgegenkommen – der Schritt kam aber zu spät. Die Forderungen der Demonstranten gehen weiter: Sie fordern freie Wahlen, eine unabhängige Aufklärung der Polizeigewalt, die Freilassung der festgenommenen Demonstranten und den Rücktritt von Carrie Lam. Das von der Regierung verhängte Vermummungsverbot goss nochmals Öl ins Feuer – wurde aber von einem Gericht in Hongkong als verfassungswidrig eingestuft. Nach der Aufhebung hat ein Parlamentssprecher in Peking das Urteil aber wiederum als nicht rechtmässig zurückgewiesen.

Das sind die Folgen für Hongkongs Regierung: Die chinesische Führung unterstützt Carrie Lam möglichst öffentlichkeitswirksam. So erhöht China den Druck auf die Regierungschefin immer mehr. Hongkongs Regierung und die Parlamentsvertreter wiederum verurteilen die Demonstranten aufs Schärfste. So bleibt kein Spielraum für Zugeständnisse.

Das Worst-Case-Szenario für die Zukunft Hongkongs: Viele sehen ein militärisches Eingreifen seitens China als neues Schreckgespenst nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz. Peking weiss jedoch, dass die Augen der Welt auf China gerichtet sind und die Reaktionen aus dem Westen heftig ausfallen würden. Aber es droht ein stärkerer Eingriff in die Rechte der Sonderverwaltungszone. Vorsorglich wurde schon beschlossen, gewisse Gesetze zu verschärfen. So will Peking bei der Ernennung der führenden Amtsträger stärkeren Einfluss erhalten. Chinas Führung scheint auf Kurs zu sein, Instrumente für eine direktere Kontrolle über Hongkong zu implementieren. «Ein Land, zwei Systeme» steht auf dem Spiel.

Zwischen Notstandsrecht und Grundgesetz

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In den vergangenen Wochen waren viele Demonstranten festgenommen worden, weil sie Masken und dicht schliessende Brillen trugen, um sich vor Tränengas und Pfefferspray der Polizei zu schützen. Viele wollten so auch verhindern, dass sie von Sicherheitskräften oder auch von ihren Arbeitgebern identifiziert werden können. Ihnen drohen unter dem Vermummungsverbot Haft bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe in Höhe von 25'000 Hongkong Dollar, umgerechnet 3200 Franken.

Das jetzige Urteil des Hongkonger Gerichts sieht nun auch das seit 1922 geltende Notstandsrecht aus der britischen Kolonialzeit im Widerspruch zum Grundgesetz, weil es die Regierungschefin im Falle einer öffentlichen Gefahr zu weitreichenden Vollmachten ermächtigt.

Seit der Rückgabe 1997 an China wird die frühere britische Kronkolonie nach dem Grundsatz «ein Land, zwei Systeme» unter chinesischer Souveränität autonom regiert. Die sieben Millionen Hongkonger geniessen – anders als die Menschen in der kommunistischen Volksrepublik – viele Rechte wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit, um die sie jetzt aber fürchten.

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