Demonstrationen im Libanon - Tripoli tanzt sich frei
In der religiösen libanesischen Küstenstadt fordern die Bürger auf Protest-Partys auch nach dem Rücktritt des Premierministers weiter ihre Rechte ein – und trotzen dabei nicht nur dem Regen.
Am dreizehnten Tag der Massenproteste in seinem Land hat der libanesische Premierminister Saad Hariri gestern den Rücktritt seiner Regierung eingereicht. Er hat damit eine wichtige Forderung der Demonstrierenden erfüllt. Staatspräsident Michel Aoun hat sich noch nicht zum Rücktrittsgesuch geäussert. Das Land hält den Atem an. Doch es wird – vorläufig – weiter protestiert.
Tripoli – eine Stadt im Spannungsfeld
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Die Hafenstadt am Mittelmeer (arabisch: Tarabulus) ist mit ca. 200'000 Einwohnern die zweitgrösste Stadt Libanons. Sie liegt 85 Kilometer nördlich von Beirut. Die Mehrheit der Bevölkerung ist sunnitisch, zu den religiösen Minderheiten gehören Christen und Alawiten. 76 Prozent der libanesischen Haushalte in Tripoli haben laut Unicef weniger als 500 US-Dollar Monatseinkommen, das heisst, sie sind arm. Zu Spannungen kommt es regelmässig zwischen Einheimischen und syrischen Flüchtlingen. Die Konkurrenz um die wenigen Arbeitsplätze ist gross. Am 3. Juni 2019 tötete ein mutmasslicher IS-Anhänger in Tripoli 2 libanesische Polizisten und 2 Soldaten und festigte damit den Ruf der Stadt, ein Hort für Extremisten zu sein. Gegen dieses Bild wehrt sich die Bevölkerung jetzt besonders stark: Die Proteste haben mit ihrer Kreativität das ganze Land beeindruckt.
Für Aufsehen in ganz Libanon haben in den letzten zwei Wochen vor allem die Proteste in der nordlibanesischen Hafenstadt Tripoli gesorgt. Diese gerät immer wieder wegen religiösen Extremisten und Gewalt in die Schlagzeilen. Ausgerechnet hier sind die Proteste zu einem Volksfest geworden, das die Menschen hier wohl nicht so schnell vergessen werden - was auch immer passieren mag.
Eine Bauruine dient als Bühne
Am Al-Nour Platz in Tripoli steht ein Hochhaus, das nie fertig gebaut wurde. In dieser Bauruine treten Musikerinnen, Rapper und DJs seit Tagen auf. An diesem Abend regnet es. Trotzdem sind Tausende auf den Platz geströmt und schauen erwartungsvoll zum Stockwerk hoch, das als Bühne dient.
Ein DJ spielt einen libanesischen Hit, das Publikum beginnt zu tanzen. Auf dem Beton-Vorsprung im ersten Stockwerk der Bauruine steht der 21-jährige Abed in einem gelben Regenmantel. Er ist von Gefühlen überwältigt.
«Schau, sie tanzen, küssen sich sogar!»
«Schau, das sind die armen Leute», sagt er. «Die Regierung hat sie bestohlen und ihnen Gewalt und Terrorismus gebracht. Und jetzt tanzen sie!»
Schau was in Syrien, Irak und Libyen passiert ist, und jetzt sieh dir diese Revolution an! Sie trinken, tanzen, spielen, ja küssen sich sogar!
Die fast naiv anmutende Freude Abeds zeigt, wie aussergewöhnlich die Ereignisse in der nordlibanesischen Hafenstadt Tripoli sind. Die Stadt hat einen schlechten Ruf: Sie sei eine Extremisten-Hochburg, in der es immer wieder zu Anschlägen und zu Gewalt zwischen der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit und den religiösen Minderheiten der Christen und Alawiten komme. Und rund zwei Drittel der Bevölkerung ist sehr arm.
Wo Wut und Armut aufeinandertreffen
«Viele hier haben nicht einmal genug Geld fürs Essen», sagt Hussein, der unter anderem mithilft, Geld für die Konzerte in Tripoli zu sammeln. Als die libanesische Regierung neue Steuern einführen wollte, unter anderem eine Steuer auf WhatsApp-Sprachanrufe, hätte das 6 Dollar pro Monat ausgemacht. In Tripoli verdienen viele nicht einmal 2 Dollar pro Tag. Aber die Wut über die WhatsApp-Steuer sei hier nur die Spitze des Eisbergs, sagt Linda Bourghol, die die Proteste in Tripoli mitorganisiert.
Die Leute in Tripoli haben schlicht genug von den miesen Spielchen der Politiker.
«Die Leute in Tripoli haben schlicht genug von den miesen Spielchen der Politiker», sagt sie. Zu diesen Spielchen gehöre, dass die Politiker die Gesellschaft für ihre Zwecke zu spalten versuchten, erklärt der muslimische Geistliche, Scheich Bilal, der in der Bauruine auf seinen Auftritt wartet
Gründe und Forderungen für die Massenproteste im Libanon
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Warum kam es zu Demonstrationen?
Libanon ist hochverschuldet und steckt in einer Finanzkrise. Gemessen am BIP sind nur Japan und Griechenland noch höher verschuldet als Libanon. Die Regierung beschloss deshalb Sparmassnahmen und neue Steuern, unter anderem auf WhatsApp-Sprachanrufe (die jetzt gratis sind). Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Es kam zu Protesten und Ausschreitungen, zuerst unter anderem in Tripoli, danach auch in Beirut. Zwei Menschen starben, Dutzende wurden verletzt, es kam zu Sachschaden. Nach den ersten zwei Tagen verliefen die anhaltenden Massenproteste, mit Ausnahme einzelner Konfrontationen zwischen der libanesischen Armee, Demonstrierenden und Anhängern der Terrormiliz Hisbollah weitgehend friedlich.
Was fordern die Demonstrierenden?
Den Rücktritt der gesamten Regierung und eine Expertenregierung, die diese ersetzt und Neuwahlen vorbereitet. Gründe für diese Forderung: Immer mehr Menschen in Libanon haben Mühe, über die Runden zu kommen. Hohe Arbeitslosigkeit, immer mehr Steuern, und dafür miserable staatliche Dienstleistungen. Libanon hat keine 24-Stunden-Stromversorgung, die Abfallentsorgung funktioniert schlecht, es mangelt an sauberem Trinkwasser, die Strassen sind in schlechtem Zustand, die Verkehrsprobleme machen allen zu schaffen. Seit dem Bürgerkrieg in Libanon, der 1990 endete, wurden zwar Milliarden in die libanesische Infrastruktur gesteckt, aber das Geld kommt nicht bei der Bevölkerung an. Diese wirft den Politikern Korruption und Diebstahl öffentlicher Gelder vor. Besonders ins Visier der Demonstrierenden geraten sind Staatspräsident Michel Aoun und sein Schwiegersohn Gebran Bassil, der auch als Aussenminister dient.
Wer steckt hinter den Demonstrationen?
Bis jetzt gibt es keine erkennbaren Köpfe der Protestbewegung. Die Bewegung ist jedoch gut organisiert: Die Demonstrierenden blockieren die Hauptverkehrsadern im Land, sprechen sich ab, wann sie welche Strasse öffnen und dann wieder schliessen. Die Aktivistinnen und Aktivisten, die öffentlich auftreten, kommen alle aus der Zivilgesellschaft und waren teilweise schon in früheren Protestbewegungen aktiv. Auffallend ist: Die meisten sind nach dem Ende des Bürgerkriegs (1990) geboren. Es gibt aber auch politische und religiöse Kräfte im Land, die die Protestbewegung für ihre Zwecke nutzen wollen.
Wie lange werden die Demonstrationen anhalten?
Bis die Regierung zurücktritt: das sagen die Demonstrierenden. Bis jetzt halten sie ihr Versprechen: Täglich demonstrieren Hunderttausende im ganzen Land gegen die Regierung, einige schlafen sogar vor den Strassenblockaden. Mit diesen wollen sie verhindern, dass die Menschen zur Arbeit fahren können und halten die Proteste so aufrecht. Allerdings sind die Banken seit Beginn der Proteste geschlossen, ebenso Schulen und Universitäten, und das Land steht vor dem finanziellen Kollaps. Premierminister Saad Hariri hat zwar Reformen versprochen, aber damit vermochte er die Bevölkerung nicht zu überzeugen. Bis jetzt hielt sich die libanesische Armee mit Gewalt gegen die Demonstrierenden zurück.
«Jetzt sind die Leute endlich aufgewacht: Muslime, Christen, Alawiten und Drusen lassen sich nicht mehr für politische Zwecke spalten,» sagt der Geistliche. «Alle demonstrieren gemeinsam für ihre Rechte als libanesische Staatsbürger,» sagt er und tritt vor die Masse.
«Tripoli hat Revolution am nötigsten»
Scheich Bilal stimmt ein Gebet an, in das er dann den Ruf «Thaura» einbaut - arabisch für Revolution. Nach ihm tritt ein christlicher Geistlicher auf, sie geben sich die Hand, die Menschen applaudieren, und danach wechseln sich DJs, Rednerinnen und Künstler ab mit Auftritten, wie sie hier in dieser verarmten Stadt viele noch gar nie erlebt haben.
«Dank dieser Revolution haben wir ein Nachtleben in Tripoli!», schwärmt ein junger, dünner Fahnenverkäufer, der im Moment mehr Geld verdient als je zuvor in seinem Leben. Aya und Hiba, zwei muslimische Frauen, tanzen zur Musik und halten ihre Handys in die Luft. «Tripoli hat diese Revolution am nötigsten», sagt Hiba. Die Politiker machen uns immer schlecht und stehlen unser Geld. Aber jetzt sind wir glücklich!»
Angst haben sie nicht, dass die Proteste in Gewalt enden. «Wir machen diese Revolution ja nicht, um uns gegenseitig umzubringen, sondern, weil wir unsere Rechte einfordern», sagt Aya.
«Die Armee ist auf unserer Seite»
In der Bauruine legt Abed einen Arm auf die Schulter eines Soldaten der libanesischen Armee, der dort Wache steht. «Die libanesische Armee ist auf unserer Seite», sagt er. Einen Tag später – am Freitag, 25. Oktober - kommt es zu Zusammenstössen mit Demonstranten und der Armee. Es gibt Verletzte. Die Menschen in Tripoli lassen sich nicht beirren. Das neue Lebensgefühl in ihrer Stadt wollen sie so schnell nicht loslassen.
Nach der Rücktrittsankündigung Saad Hariris am Montagabend, zeigten Fernsehstationen Bilder von vorsichtig jubelnden Menschen in Tripoli. Sie wollen – vorläufig – weiter demonstrieren.
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