Nach rund zehn Jahren an der Spitze der grünen Partei Deutschlands tritt Co-Parteichef Cem Özdemir ab. Kommendes Wochenende wählen die Grünen am Parteitag eine neue Führung. Der deutsche Journalist Matthias Meisner ordnet Özdemirs Abgang ein.
SRF News: Wie schwer wiegt der Abgang von Cem Özdemir?
Matthias Meisner: Es ist sicher eine Zäsur. So lange war noch nie jemand bei den Grünen Parteivorsitzender. Umgekehrt haben die Grünen auch schon den Rückzug von prominenten Männern verkraftet, zum Beispiel von Joschka Fischer, der sich 2006 zurückgezogen hat.
Wie gross ist die Lücke, die Özdemir hinterlässt?
Er hat sich jahrelang abgekämpft und sich auch hart innerhalb des Flügels auseinandersetzen müssen, zuletzt mit der linken Frontfrau, Simone Peter. Ganz weg ist er ja nicht. Er bleibt im Bundestag. Er wird das harte Geschäft mit der Opposition betreiben müssen und man wird sehen, ob er sich als starker Redner im Bundestag profiliert.
Was war Özdemir für eine Figur?
Er spielte rein schon durch seine Herkunft eine besondere Rolle. Er stammt aus einer türkischen Migrantenfamilie. Letztlich haben die Grünen in ihrer Geschichte nur selten Menschen hervorgebracht, die dann eine so grosse Bekanntheit erlangten und so zum öffentlichen Bild gehörten.
War Özdemir ein Bindeglied in der Partei?
Er stammt klar aus dem Realo-Flügel. Der so genannte Fundi-Flügel – neuerdings nennen die Grünen diesen Flügel den linken, das klingt nicht so hart – schwächelt. Es gibt das geflügelte Wort von der Özdemisierung der Partei. Auf dem Parteitag in Hannover wird sich die Frage stellen, ob in der künftigen Doppelspitze der Partei der linke Flügel überhaupt noch vorkommt.
Rechnen Sie vermehrt mit Flügelkämpfe zwischen Realos und Fundis?
In der Partei kann das passieren. In der Fraktion gilt nach wie vor die Flügel-Arithmetik. Da gibt es Kathrin Göring-Eckhard, die ganz klar eine Reala ist. Und der linke Flügel ist durch Anton Hofreiter, der ähnlich bekannt und profiliert ist, vertreten. Aber wie erwähnt, der linke Flügel bei den Grünen schwächelt etwas.
Gibt es in der Grünen Partei Persönlichkeiten, die die Lücke, die Özdemir hinterlässt, auszufüllen können?
Es gibt drei Kandidaten für zwei Vorstandsposten. Überregionale Bekanntheit ist bei allen dreien noch nicht da, trotzdem sind es interessante Figuren. Es gibt da den Umweltminister aus Schleswig-Holstein, Robert Habeck. Aus Brandenburg bewirbt sich die Bundestagsabgeordnete Anna-Lena Baerbock und die Kandidatin des linken Flügels, Anja Pel aus Niedersachsen. In der Partei sind die drei durchaus bekannt. Sie sind alle auf ihre Weise auch beliebt. Wenn die schwarz-rote Koalition zusammenkommt, wird es eine Herausforderung, sich auch im Wettbewerb mit Linkspartei, FDP und AFD zu behaupten – insbesondere im Rahmen der komplizierten Oppositionssituation.
Özdemir wollte in einer Jamaika-Koalition Aussenminister werden. Daraus ist nichts geworden. Wie geht es mit ihm weiter?
Es ist noch nicht ganz klar, welche Aufgabe er in der Fraktion übernimmt. Man kann sich gut vorstellen, dass er sich in der Europapolitik oder auch im Wirtschaftsausschuss engagiert.
Die Grünen sind seit Jahren in der Opposition, und sie werden auch in den nächsten Jahren nicht mitregieren. Hat Özdemir zum Schluss quasi eine Niederlage einstecken müssen?
Özdemir hat eine ganze Reihe von Niederlagen in seiner politischen Laufbahn gehabt. Er ist 52. Er hat sich immer wieder als Stehaufmännchen erwiesen. Vielleicht gibt es mittelfristig doch noch die Chance, dass er wieder in der ersten Reihe steht.