Seit 28 Jahren begeht Deutschland den Tag der Einheit. Doch ist diese «Einheit» mehr als ein frommer Wunsch? Zumindest von aussen betrachtet macht die Bundesrepublik den Eindruck eines gespaltenen Landes. Die Feierlaune dürfte bei vielen Menschen getrübt sein.
Gerd Appenzeller, ehemaliger Chefredaktor und Mitherausgeber des Berliner «Tagesspiegels», räumt ein: Der Deutsche an sich neige ohnehin zum Miesepetrigen, «und was wir an Feierlaune haben, wird schon überdeckt durch die permanenten Streitigkeiten in der grossen Koalition.»
Zu den politischen Gräben kommen die gesellschaftlichen. In den nicht mehr ganz so «neuen Bundesländern» macht die AfD zusehends den (einstigen) Volksparteien CDU und SPD Konkurrenz. Im grössten ostdeutschen Bundesland Sachsen könnte sie bald sogar stärkste Kraft werden.
Im Herbst 1989 waren es die Bürgerinnen und Bürger der damaligen DDR, die mit dem Ruf «Wir sind das Volk» auf die Strasse gingen und die Wiedervereinigung einleiteten. Heute ertönt dieser Ruf in Ostdeutschland wieder, allerdings in anderem Kontext.
Appenzeller ist alarmiert: «Die Unzufriedenheit mit dem etablierten Parteiensystem ist weit verbreitet.» Die AfD, für Appenzeller eine «neu-braune Partei», sei gegen alles, was die Regierung mache – und versammle damit viele Menschen hinter sich: «Das zerstört den Bürgersinn, ohne den man eine Demokratie nicht aufbauen kann.»
Ich habe den furchtbaren Verdacht, dass es eine Familienüberlieferung ist, braune Parteien zu wählen.
Allein auf wirtschaftliche Unterschiede, also ein Gefühl der Benachteiligung gegenüber wohlhabenderen Bundesländern, will der Berliner Journalist die Entwicklung nicht zurückführen. Er sieht auch ein «Fehlen demokratischer Traditionen»: Die Bevölkerung im Osten habe von 1933 bis 1989 durchgehend in Diktaturen gelebt.
Im Grenzgebiet von Sachsen und der früheren Tschechoslowakei etwa gebe es seit 70-80 Jahren eine Tendenz, braune Parteien zu wählen. «Ich habe den furchtbaren Verdacht, dass das eine Familienüberlieferung ist.» Vom Grossväter über die Väter bis zu den Enkeln sei weitergegeben worden: «‹Lasst uns mal die wählen, damit wieder Ordnung herrscht›. Kriegen Sie das mal raus aus den Menschen», sagt Appenzeller resigniert.
Passive Politik
Die Trennlinien von Unzufriedenen über «besorgte Bürger» zu Rechtsextremen verlaufen unscharf. Grenzen sich die demokratischen Kräfte diesbezüglich zu wenig stark ab? Es fehle am «aufrechten Argumentieren» in der politischen Schicht, sagt der Berliner Journalist: «Es gibt gerade in Sachsen seit mehr als zwanzig Jahren eine verhängnisvolle Tendenz, rechte Umtriebe kleinzureden und als Einzelfälle darzustellen.»
Man dürfe sich im Westen nicht über darüber erheben, warnt Appenzeller, und auch die Bundesregierung habe nicht immer entschieden genug auf rechtsextreme Auswüchse reagiert: «Ich glaube aber, dass das demokratische Kernbewusstsein im alten Westdeutschland ausgeprägter ist als im Osten.»
Jeder dritte Deutsche Populisten zugetan?
Appenzeller macht sich Sorgen, dass die Erosion der Solidarität und des demokratischen Bewusstseins auch auf den Westen ausstrahlt. Vor einigen Tagen ist eine Studie der Bertelsmann-Stiftung erschienen, die diesen Ängsten Auftrieb gibt. Sie kommt zum Schluss, dass jeder dritte deutsche Wahlberechtigte populistisch eingestellt ist, die politische Elite ablehnt und an einen einheitlichen Volkswillen glaubt.
Panikmache oder Realität? Appenzeller teilt die Besorgnis insofern, als die Menschen dem politischen Berlin zunehmend skeptisch gegenüberstünden: «Es hat sich phasenweise von den Bedürfnissen und Sorgen der Menschen entfernt.»
Das beste Mittel, um gegen Populismus vorzugehen, sei, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die den Menschen wichtig sind. Kurz: Die Politik müsse die Nöte der Menschen ernst nehmen. «Dann ist das Populismus-Problem relativ schnell wieder ausgeräumt», sagt Appenzeller.
Deutschland hat Probleme.
In vielen Bundesländern sei mit dem Auftauchen der AfD die Wahlbeteiligung gestiegen, gibt der Journalist zu bedenken. Die Partei sei von einstigen Nichtwählern nicht gewählt worden, weil diese auf einmal rechtsradikal geworden seien: «Sie wollten die etablierten Parteien aufscheuchen.»
Abschliessend macht Appenzeller klar: Das Projekt der Wiedervereinigung sei eine gewaltige Leistung gewesen. Deutschland habe erfolgreich Diktatur in Demokratie überführt: «Das war einmaliges Feldexperiment.» Aber: «Deutschland hat Probleme. Und am Versöhnen zwischen Ost und West müssen wir noch etwas arbeiten.»