Am 22. November 1963 hält die Welt den Atem an. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy wird ermordet. Die Schockwellen über den Tod des schillernden JFK, des ersten globalen Polit-Popstars, erreichen auch die Schweiz.
«Hier spricht Heiner Gautschy in New York», setzt die Schweizer Radio-Legende mit tragischem Ernst an: «John F. Kennedy, der Präsident der Vereinigten Staaten, ist schweren Verletzungen erlegen.»
Die Schweizer Bevölkerung reagiert traurig, ja sogar geschockt auf die Nachricht. Verteidigungsminister Paul Chaudet versichert den USA das Beileid über den «gewaltigen Verlust».
Seit dem Jahrhundertereignis sind fast 54 Jahre vergangen. Doch JFK hat überbedauert: Vielen gilt er bis heute als visionärer Präsident, andere brandmarken ihn wegen der Eskalation des Vietnam-Konflikts als Kriegstreiber; der Boulevard schliesslich inszenierte Kennedy als Womanizer und Lebemann.
In Erinnerung blieb aber vor allem JFKs Tod – und die eine grosse Frage: War Lee Harvey Oswald der alleinige Todesschütze, oder waren andere Mächte am Attentat beteiligt? Generationen von Verschwörungstheorikern suchten nach der Antwort. Vergebens.
Das war’s jetzt?
Entsprechend gross war die Aufregung, als letzte Woche Hunderte bisher geheime «Kennedy-Akten» freigegeben wurden. Und fast genauso so schnell, wie der Aktenberg ins Netz hochgeladen wurde, implodierte die Aufregung wieder: auf eine grosse Schlagzeile herunterbrechen liess sich die «Enthüllung» nicht.
Wie so oft ist es den Historikern überlassen, sich mit der unübersichtlichen Ansammlung von Protokollen und manchmal kaum lesbaren Notizen zu befassen. Einer von ihnen ist Andreas Etges, profunder Kenner der «Akte Kennedy».
Seit Teile davon letzten Donnerstag veröffentlicht wurden, hat sich Etges – wie viele andere Kenner der Materie – durch das Dokumentendickicht geschlagen. Eine erste Bilanz zieht er im Tagesgespräch von Radio SRF – und sie ist ernüchternd: «Leider sind die möglicherweise spannendsten Sachen noch nicht freigegeben worden.»
Diese will US-Präsident Donald Trump, wie er am Wochenende ankündigte, nachliefern. Etges muss sich vorderhand, wie er es ausdrückt, mit «einigen wenigen kleinen Perlen» begnügen. Der Veröffentlichung der ausstehenden Dokumente blickt Etges mit kühlem Forscherblick entgegen:
Wie die meisten meiner Kollegen erwarte ich nicht die ultimative Antwort auf die grosse Frage, wie es (bei JFKs Ermordung) ganz genau war.
Wer angesichts von so viel Nüchternheit gleich den neuesten Polit-Thriller von John Grisham ordert, sollte Historiker Etges erst einmal ausreden lassen: «Vom letzten Prozent des letzten Prozents der gigantischen Aktensammlung, das jetzt freigegeben wird, erhofft man sich natürlich trotzdem etwas. Warum sollten diese Dinge sonst so lange geheim gehalten werden?»
Zwischen den Zeilen
Sehen Sie selbst
Etges rechnet damit, dass zwar durchaus Neues an die Öffentlichkeit dringt, nicht aber die grosse, schockierende Enthüllung: «Auch, weil wir einfach schon zu viel wissen, etwa durch grosse Untersuchungsausschüsse infolge der Watergate-Affäre.»
«Immer wieder kommen aber interessante Details heraus, beispielsweise auch über Lee Harvey Oswald, der eine obskure Figur bleibt», so der Experte für amerikanische Geschichte. Auch Einzelheiten über die schlampige Arbeit der Ermittlungsbehörden würden immer wieder publik.
Aufschlussreiche «Nebenepisoden»
Pikanter sind aber oft Dinge, die den Tod von JFK nur streifen, oder gar nicht erst berühren. Etges nennt Beispiele: etwa, dass unter Kennedys Ägide diverse Mordanschläge auf Fidel Castro geplant oder durchgeführt wurden, «zum Teil in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Mafia.» Seither kursierten auch Theorien, dass Kennedy einem Gegenschlag durch das kubanische Regime zum Opfer gefallen sein könnte.
Ohnehin wecken die vermeintlichen «Nebenschauplätze» Etges’ besonderes Interesse. Zum Beispiel, wenn Kennedys Justizminister nicht etwa von der Mafia orchestrierte Mordanschläge hinterfrage, sondern lediglich bemängele, dass er nicht von den Plänen in Kenntnis gesetzt wurde:
Das sind Dinge, die kein gutes Licht auf die Kennedy-Administration werfen. Es zeigt, wie einer westlichen Supermacht im Kampf gegen den Kommunismus fast jedes Mittel recht war.
Für Etges gibt es denn auch einen banalen Grund dafür, dass die Kennedy-Akten teils bis heute unter Verschluss gehalten wurden: «Die Behörden hatten Angst, dass Dinge herauskommen, die nicht zwingend etwas mit der Kennedy-Ermordung zu hatten, sondern gewissen Organisationen schaden.»
Mensch und Mythos
Etges’ Ausführungen zeigen: Die Faszination Kennedy lebt weiter – auch bei deutschen Historikern, denen eine gewisse Scheu vor «poppigen» Forschungsthemen nachgesagt wird. Für Etges ist diese Faszination auch darin begründet, dass Kennedy zu einer Zeit ins Weisse Haus einzog, als die USA, und mit ihr die Welt, im Umbruch waren: «Kennedy war Präsident, noch bevor das amerikanische Image weltweit durch den Vietnam-Krieg deutlich kritischer betrachtet wurde.»
Die Liste der historischen Umwälzungen zu Kennedys Zeit lässt sich fast beliebig fortführen: Der Mauerbau in Berlin, der «March on Washington» durch den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King, der Aufstieg der Massenmedien, die Kennedy als Polit-Popstar inszenierten: «Beim Mythos JFK spielt seine Ermordung aber sicherlich eine ganz grosse Rolle.»
Die genauen Hintergründe des Attentats könnten für immer ein Geheimnis bleiben, glaubt Etges: «Es gab zu viele Ermittlungspannen in den 1960er-Jahren und zu viel Obstruktion bei den Ermittlungen, auch in späteren Jahren. Ich bin tendenziell aber auch davon überzeugt, dass es die grosse Verschwörung gar nicht gibt.»
Am Ende macht der Historiker einen vielleicht allzu menschlichen Instinkt für den Mythos des 22. November 1963 verantwortlich:
Dieser junge, idealisierte Präsident, der so viele Menschen inspiriert hat, kann nicht von einem Lee Harvey Oswald oder einer mickrigen Verschwörung umgebracht worden sein.