Trotz stark steigender Infektionszahlen mit dem Coronavirus ist in Schweden eine Maskenpflicht kein Thema, wie SRF-Nordeuropakorrespondent Bruno Kaufmann weiss.
SRF News: Wie ist die aktuelle Situation in Schweden?
Bruno Kaufmann: Schweden steht an der Schwelle zur zweiten Pandemiewelle. Jetzt sind im Gegensatz zum Frühling aber nicht mehr nur die Städte betroffen, die Infektionszahlen steigen im ganzen Land an. Vor allem jüngere Menschen stecken sich bislang vermehrt an, weshalb das Gesundheitswesen noch nicht überlastet ist. Doch es zeichnet sich eine massive Verschärfung ab, eine grössere Krise ist nicht ausgeschlossen.
Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell hatte für den Herbst nur mit einigen lokalen Infektionsherden gerechnet. Hat er sich also ziemlich geirrt?
Im Rückblick muss man sagen, dass Tegnell mit seiner ruhigen, nicht-alarmistischen Art das Virus immer wieder etwas unterschätzt. Gleichzeitig wies er stets auf eine langwierige Pandemie hin, die entsprechende Verhaltensänderungen nötig mache.
Chef-Epidemiologe Tegnell hat das Virus immer wieder etwas unterschätzt.
Tegnell glaubte zu Beginn des Herbstes nicht, dass auch Schweden von einer starken zweiten Pandemiewelle getroffen wird – was sich jetzt als strategischer Fehler herausstellt.
Jetzt fordern auch in Schweden immer breitere Kreise härtere Massnahmen...
Die Forderung kommt von Medizinern oder Schulleitern. Sie weisen darauf hin, dass die jetzigen Massnahmen zu wenig greifen und die Menschen den Empfehlungen zu wenig strikt folgen. Deshalb wurde das öffentliche Leben an einigen Orten schon massiv zurückgefahren, etwa in der Studentenstadt Uppsala. Hier riefen die Behörden die Menschen schon vor Wochen auf, den ÖV nicht mehr zu nutzen und die Bibliotheken nicht mehr zu besuchen.
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Hört die schwedische Regierung auf die Stimmen, welche schärfere Massnahmen fordern?
Ich denke schon. Bisher gaben vor allem die Gesundheitsbehörden die Linie vor, jetzt scheint die Regierung das Zepter in die Hand zu nehmen. So müssen die Restaurants schon bald um 22 Uhr schliessen, Feste – auch private – sollen verboten werden, auch Reisebeschränkungen und erstmals sogar Schulschliessungen sind in Diskussion. Doch weiterhin wird betont, dass das Wichtigste sei, dass alle ihre Selbstverantwortung wahrnähmen.
In Schweden ist eine Maskenpflicht weiterhin kein Thema. Weshalb nicht?
In der Tat sind die Masken sehr schwach verbreitet. Selbst im ÖV tragen schätzungsweise bloss drei von hundert Passagieren eine Maske.
Im ÖV tragen vielleicht drei von hundert Passagieren eine Maske.
Die Behörden stellten sich stets auf den Standpunkt, dass eine Maskenpflicht die Menschen dazu veranlassen könnte, die anderen Vorsichtsregeln wie Abstandhalten und Hygiene nicht mehr so ernst zu nehmen. Deshalb versucht man bislang immer noch, ohne Masken durch die Pandemie zu kommen. Wie lange das so bleibt, ist allerdings eine offene Frage.
Es könnte sich zeigen, dass sich Schweden auf dem Holzweg befindet.
Wird Schweden seinen Sonderweg weitergehen?
Die spezielle politisch-kulturelle Einstellung der Schweden mit Betonung der Eigenverantwortung wird weiterhin bestimmend sein. Doch es könnte sich zeigen, dass sich das Land damit auf dem Holzweg befindet. Die Situation ist jetzt ganz anders als im Frühling. Damals wurde es schon bald wärmer, der Sommer kam, die Leute hielten sich vermehrt draussen auf. Jetzt aber kommt die dunkle Winterzeit. Viele Schweden leben in Einzelhaushalten, und ob man sich zu Weihnachten treffen kann, ist völlig offen. Schweden kommt jetzt in eine sehr kritische Phase.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.