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Die Sicht der Taliban «Fragen Sie doch die Amerikaner!»

In Afghanistan wurde Samstag eine neue Regierung gewählt – Resultate werden allerdings erst in der zweiten Oktoberhälfte erwartet. Die Wahlen wurden von Korruptionsvorwürfen und Gewalt überschattet.

Die radikal-islamischen Taliban haben diverse Anschläge auf Wahlveranstaltungen verübt und mit weiteren gedroht.

Zudem kam das Friedensabkommen, das sie mit den USA ausgehandelt hatten, nicht zustande. US-Präsident Donald Trump erklärte es im letzten Moment als gescheitert. Der Taliban-Sprecher Suhail Shaheen erläutert, wie die Taliban die Situation sehen. Der hochrangige Taliban war selbst Teil der Delegation, welche die Friedensverhandlungen mit den USA führte.

Suhail Shaheen

Sprecher der Taliban in Doha (Katar)

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Sohail Shaheen war Journalist, u.a als Herausgeber der englischsprachigen, staatlichen Kabul Times. Als Taliban-Sprecher agiert er von Doha aus. In Katar richteten die radikalen Islamisten 2013 ein «Politisches Büro» ein. Dort ist er Teil einer rund 30-köpfigen Delegation, die als politischer Arm der radikalislamischen Organisation gilt, welche in vielen Ländern als terroristisch eingestuft ist.

SRF News: Sehen sich die Taliban als die eigentliche Regierung Afghanistans?

Ja, wir sind das echte afghanische Volk. Unsere Herrschaft ist der Bevölkerung nicht durch eine Invasion ausländischer Truppen aufgezwungen worden, wie die aktuelle Regierung in Kabul.

Fragen Sie doch die Amerikaner! Sie intensivierten ihre Bombardierungen und Drohnenattacken und waren sogar stolz darauf.

Wir sind in über 70 Prozent des Territoriums präsent. Dort haben wir Gouverneure, Sicherheitschefs und Richter. Ja, wir empfinden uns als die Regierung von Afghanistan.

Wie viel kontrollieren die Taliban wirklich?

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Suhail Shaheen behauptet in diesem Gespräch, die Taliban kontrollierten 70 Prozent der Fläche Afghanistans. Diese Behauptung wird nicht durch Fakten gestützt. Die Schätzungen gehen auseinander. Laut dem «Longwar Journal» kontrollieren die Islamisten nur etwa 15 Prozent der afghanischen Distrikte, in denen 11 Prozent der Bevölkerung leben. Etwa die Hälfte des Landes ist demnach unter Regierungskontrolle, fast ein Drittel ist umkämpft.

Sie haben an den Friedensverhandlungen mit den USA teilgenommen. Wie sah die Einigung aus?

Es gab vier Komponenten: Erstens, dass die ausländischen Truppen sich aus Afghanistan zurückziehen. Zweitens, dass von afghanischem Boden aus keine Angriffe auf die USA und ihre Verbündeten geplant und ausgeführt werden. Drittens, dass auch die afghanischen Konfliktparteien untereinander Gespräche führen, mit allen Beteiligten, auch der Regierung in Kabul. Und viertens, dass in diesen innerafghanischen Gesprächen eine umfassende Feuerpause ausgehandelt wird.

Strassenkontrollen gegen Anschläge: Die Drohungen der Taliban haben grosse Wirkung.
Legende: Strassenkontrollen gegen Anschläge: Die Drohungen der Taliban haben grosse Wirkung. Keystone

Trump begründete den Abbruch der Verhandlungen damit, dass die Taliban wieder vermehrt Angriffe verübt hätten.

Fragen Sie doch die Amerikaner! Sie intensivierten ihre Bombardierungen und Drohnen-Attacken und waren sogar stolz darauf. Sie griffen uns an, wir schlugen zurück. Zu diesem Zeitpunkt gab es keinen offiziellen Waffenstillstand. Dieser sollte nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens in Kraft treten, doch das geschah nicht, wegen des Tweets von Präsident Trump.

Sind die Taliban noch offen für Verhandlungen mit den USA?

Ja, wir stehen zum Friedensabkommen, das fertig ausgehandelt ist. Wir wollen es unterzeichnen, um vorwärts zu gehen und innerafghanische Verhandlungen zu beginnen, mit allen Vertretern der afghanischen Gesellschaft, auch mit der Regierung in Kabul.

Die Wahlen stehen für eine Verlängerung der ausländischen Präsenz im Land.

Und dann wollen wir, als Resultat dieser Konsultationen, eine neue Regierung bilden, an der alle Afghanen beteiligt sind.

Am Ende dieses Friedensprozesses soll eine neue afghanische Regierung stehen. Warum boykottieren Sie die Wahlen dann?

Weil die Wahlen das Problem der Besetzung Afghanistans nicht lösen. Sie stehen für eine Verlängerung der ausländischen Präsenz im Land. Das ist es, was Präsident Ashraf Ghani will. Wir wollen das nicht. Wir wollen die Friedensverhandlungen zu Ende führen und dann wählen. Deswegen haben wir die Leute dazu aufgerufen, die Wahlen zu boykottieren.

Bei Anschlägen der Taliban auf Wahlveranstaltungen kamen 26 Menschen ums Leben. Töten die Taliban ihre Bürger?

Nein, wir töten unsere Bürger nicht. Wir haben angekündigt, dass wir Strassen zu den Wahllokalen sperren wollen, und wir rufen die Menschen dazu auf, nicht wählen zu gehen.

In jedem Krieg gibt es bedauerlicherweise Kollateralschäden.

Leider kamen bei einigen unserer Anschläge Zivilisten ums Leben. Das war nicht beabsichtigt. Das Ziel unserer Attacken sind die Regierungskräfte. Aber in jedem Krieg gibt es Kollateralschäden, bedauerlicherweise.

Sie wollen zurück an die Macht und betrachten zivile Opfer nur als Kollateralschäden?

Deswegen haben wir die Regierungskräfte und die ausländischen Besatzer aufgerufen, ihre militärischen Einrichtungen aus den Wohnquartieren in Kabul zu entfernen. Doch leider haben Regierung und Besatzer zentrale Militärposten noch in Wohnquartieren installiert. Da haben wir keine Wahl. Doch wir versuchen alles, um zivile Opfer zu reduzieren.

Trotzdem werden wegen Ihrer Drohungen weniger Menschen an die Wahlurne gehen. Wollen Sie die Regierung von Anfang an diskreditieren?

Unserer Ansicht nach sind Wahlen unter Besatzung eine Farce. Sie sind nur dazu da, um der Besetzung eine Legitimität zu geben. 2014 war nicht klar, wer die Wahlen gewonnen hatte, weil auf beiden Seiten betrogen wurde. So kam der damalige US-Aussenminister John Kerry nach Kabul und entschied, Ashraf Ghani soll Präsident werden. Die Entscheidung, wer das Land regiert, wurde von Kerry getroffen, nicht von den Wählern!

Die Taliban werden die künftige Regierung also nicht anerkennen, egal, wer gewinnt?

Natürlich, denn aus unserer Sicht ist Afghanistan besetzt. Wir wollen die Befreiung Afghanistans, wir wollen eine unabhängige Regierung, die den echten Volkswillen berücksichtigt.

Das Gespräch führte Thomas Gutersohn.

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