Helmut Schmidt (1918 - 2015)
Bundeskanzler wider Willen
Helmut Schmidt wollte eigentlich nie Bundeskanzler werden. «Ich wollte dieses Amt nicht, ich hatte Angst davor.» Wer nach Macht strebe, sei ein «potenziell gefährlicher Mensch», meinte der Bundeskanzler a.D. bei «Beckmann». Dennoch bewältigte er in seiner Kanzlerzeit (1974 - 1982) mehrere Krisen der 1970er-Jahre. Schmidt war ein pragmatischer Sozialdemokrat, der sich selbst einmal «ein paar Zentimeter links von der Mitte» positionierte. Ihm wurde nachgesagt, er sei ein kühler unnahbarer Hanseat. Dies meinte auch der damalige SPD-Chef Franz Müntefering zu seinem 90. Geburtstag 2008: «Es stimmt: Er hat es uns nicht leicht gemacht. Mit seinen manchmal sarkastischen, manchmal arroganten Attacken. Leicht ist der Mann nicht zu handhaben.»
Problemlöser Schmidt
Die Öffentlichkeit wurde erstmals im Februar 1962 auf Schmidt aufmerksam. Eine Sturmflut überschwemmte nachts Hamburg, 315 Menschen starben, 75‘000 wurden obdachlos. Dass diese Zahlen nicht noch grösser waren, war Schmidts Verdienst. Als Senator der Hansestadt überschritt er seine Kompetenzen und befahl Bundeswehr-Helikopter und Sturmboote in die Flutgebiete, um Menschen zu retten. Schmidt schuf damit ein Vorbild für Einsätze von Bundeswehr und Militärressourcen. Mit seiner Aktion begründete er seinen Ruf als Krisenmanager und Problemlöser. In Bezug auf die fehlende gesetzliche Legitimation wird Schmidt mit den Worten zitiert: «Ich habe das Grundgesetz nicht angeguckt in jenen Tagen.»
Gemeinsames Leben – gemeinsame Laster
Helmut Schmidt war mit Hannelore Glaser, besser bekannt unter ihrem Spitznamen Loki, seit 1942 bis zu ihrem Tod im Jahr 2010 verheiratet. Den Spitznamen bekam sie schon in ihrer Kindheit. Loki ist eine Figur aus der altisländischen Dichtung. Schmidt und Loki lernten sich schon im Kindergarten kennen und hatten gemeinsame Interessen und auch Laster: Beide waren passionierte Raucher. Loki war Grundschullehrerin und ihren Wunsch, Biologie zu studieren, stellte sie zu Gunsten von Helmut Schmidts Studium hintenan. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Der behindert geborene Helmut Walter (*1944) starb noch vor seinem ersten Geburtstag. Die Tochter Susanne kam im Mai 1947 zur Welt.
Der gute Ruf eilte ihm voraus
Die eindrückliche Tätigkeit als «Sturmflut-Senator» in Hamburg blieb in Bonn und in der SPD-Parteizentrale nicht unbeachtet. Als die SPD 1966 mit Willy Brandt in die grosse Koalition mit der CDU/CSU eintrat, war er bereit für die nationale Bühne. Helmut Schmidt übernahm 1967 den Vorsitz der SPD. Zusammen mit Rainer Barzel als Fraktionschef führte er die SPD bis zu seiner Wahl zum Bundeskanzler im Jahr 1974. Aus der anfänglichen Feindschaft entstand eine grosse Freundschaft mit Barzel, die bis zu dessen Tod 2006 anhielt.
Pragmatischer Verteidigungsminister
Auf Bundesebene trat Helmut Schmidt 1969 in Erscheinung. Bei den Wahlen schwang die SPD obenaus und Bundeskanzler Willy Brandt berief seinen Parteifreund zum Verteidigungsminister. Später leitete Schmidt als Finanz- und Wirtschaftsminister, das «Superministerium». Seine pragmatische Art widerspiegelte sich in seiner Arbeit. So verkürzte er als Verteidigungsminister zum Beispiel die Grundwehrdienstzeit und schuf Bundeswehruniversitäten in Hamburg und München.
Ein Grosser geht – Schmidt kommt
Der brüske Rücktritt von Willy Brandt nach der Guillaume-Affäre katapultierte Helmut Schmidt an die Spitze der deutschen Bundesregierung. Der Bundestag wählte ihn am 16. Mai 1974 zum 5. Kanzler der Bundesrepublik. In seiner Antrittsrede sagte Schmidt, dass keine Regierung bei Null anfangen könne und keine Regierung Wunder vollbringen werde. Das Mögliche müsse sie aber mit aller Kraft verwirklichen.
Paris und Bonn kommen sich näher
Als Bundeskanzler intensivierte Schmidt die Beziehungen zu Frankreich. Mit Valéry Giscard d’Estaing verband ihn zeitlebens eine grosse Freundschaft. Mit ihm begründete Schmidt die Tradition der Weltwirtschaftsgipfe (heute G7) und stellte die Weichen für die europäische Währung ECU, dem Vorgänger des Euro. Die deutsch-französischen Beziehungen verbesserten sich wesentlich. Dies führte auch Europaweit zu einer verstärkten Integration. Der Weg zur heutigen EU war damit geebnet.
Proteste gegen SS-20-Mittelstreckenraketen
Als Regierungschef wurde Schmidt auch mit den Protesten gegen die Stationierung von US-Raketen auf deutschem Boden als Antwort auf die neue sowjetische Bedrohung konfrontiert. Schmidt sah 1977 die Gefahr, dass es zwischen den beiden damaligen Supermächten zu einem Rüstungs-Ungleichgewicht kommen könnte. Daher pochte Schmidt auf den NATO-Doppelbeschluss. Dieser lies zwar die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Westeuropa zu, verband dies aber mit einem Verhandlungsangebot an die Sowjetunion, auf beiden Seiten abzurüsten.
Der «Deutsche Herbst» belastete Schmidt
Eine weitere Krise hatte Schmidt ganz zu Beginn seiner Kanzlerzeit zu bewältigen. Der Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) gipfelte in den Jahren 1976/77 im «Deutschen Herbst». Damals wurde Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer gekidnappt. Fast gleichzeitig wurde von palästinensischen Terrorristen die Lufthansa-Maschine «Landshut» in die somalische Hauptstadt Mogadischu entführt, um gefangene RAF-Leute freizupressen. Beide Ereignisse standen in der Verantwortung von Schmidt und belasteten ihn noch lange nach seiner Zeit als Bundeskanzler. Er musste entscheiden und richtete sich nach der obersten Maxime: Der Staat lässt sich nicht erpressen. Schmidt befahl die Befreiung der Geiseln durch die Spezialeinheit GSG9. Stunden später kam es zur «Todesnacht von Stammheim»: In der Nacht zum 18. Oktober 1977 begingen die RAF-Mitglieder Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader Suizid. Einen Tag später war Schleyer tot. Helmut Schmidt erklärte später, er hätte im Fall eines Scheiterns der Befreiungsaktion in Mogadischu seinen Rücktritt eingereicht. Eine entsprechende Erklärung sei vorbereitet gewesen und wurde danach vernichtet. Immerhin: Mit der Stürmung der «Landshut» erlangte die GSG9 international Anerkennung und die Einheit ist bis heute in solchen Krisensituationen tätig.
Schmidt und der «Singsang-Redner»
Die von Willy Brandt begründete Entspannungspolitik mit der DDR führte Helmut Schmidt fort. Er besuchte 1981 die damalige DDR und den Generalsekretär Erich Honecker. Einen Vergleich zwischen diesen beiden Staatsmännern wagte damals die Londoner «Financial Times»: «Wenn Helmut Schmidt, der westdeutsche Kanzler, zu Deutschlands besten Rednern gehört, so muss Erich Honecker einer der am wenigsten begabten sein. Sich seiner hohen Singsang-Stimme auszusetzen, die die Litanei der ostdeutschen Kommunistischen Partei beschwört, ohne auch nur einen Hauch von Emotion in seinem Gesicht, kann eine sterbenslangweilige Erfahrung sein.»
Schmidts wohl schwerster Gang im Bundestag
Die Koalition zwischen der FDP und der SPD brach im Spätsommer 1982 auseinander. Der offizielle Grund dafür waren Differenzen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Eigentlich ging es aber um den NATO-Doppelbeschluss, von dem die SPD-Basis nichts wissen wollte. Im September traten die FDP-Minister in corpore zurück. Zunächst versuchte Schmidt, ohne Mehrheit weiter zu regieren. Ein konstruktives Misstrauensvotum im Bundestag brach dem Hanseaten das Genick. Am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Kohl mit den Stimmen von CDU, CSU und der Mehrheit der FDP-Koalition zu Schmidts Nachfolger gewählt. Sein wohl schwerster Gang im Bundestag in Bonn zur Gratulation an Kohl spricht Bände.
Die langjährige Gefährtin stirbt
Einen schweren Schicksalsschlag erlitt der Bundeskanzler a.D. 2010. Seine Frau Loki stirbt am 21. Oktober 2010 nach einem Sturz . Sie war zeitlebens seine Wegbegleiterin gewesen. Die Trauerfeier fand in der Hamburger Michealiskirche im Beisein von zahlreichen prominenten Gästen statt. Zwei Jahre später gab Helmut Schmidt bekannt, er habe nach Lokis Tod eine neue Lebensgefährtin gefunden: Die 82jährige Ruth Loah zählte seit Jahrzehnten zu Schmidts Vertrauten.