22.5 zu 23.5 Prozent. In den jüngsten Wahlumfragen hat das Rassemblement National (ehemals Front National) erstmals die Nase vorn. Grund für Emmanuel Macron, auf sein im Präsidentschaftswahlkampf bewährtes Rezept zurückzugreifen und die Europawahl zur Schicksalswahl hochzustilisieren:
Progressisten gegen Nationalisten, liberale Pro-Europäer gegen nationalistische Anti-Europäer. «Ich setze meine ganze Energie ein, damit das Rassemblement National nicht gewinnt», erklärte der französische Staatspräsident letzte Woche am EU-Gipfel in Rumänien.
Marine Le Pen nahm den Steilpass dankbar an: «Herr Macron wirft seine ganze Autorität in die Waagschale. Also legt er seine Zukunft in die Hände der Wähler, oder etwa nicht?» Will heissen, Macron müsse zurücktreten, sollte die rechtsradikale Partei besser abschneiden als die Regierungspartei La République en Marche.
Schlachtfeld im Stellvertreter-Krieg
Weder Macron noch Le Pen figurieren auf ihren Wahllisten «Renaissance», respektive «Prenez le pouvoir». Sie führen einen Stellvertreterkrieg, bei dem Europa zum Nebenschauplatz wird.
Tatsächlich sind die Europawahlen für Macron entscheidend. Nach der Affäre um einen seiner Leibwächter und der Gelbwesten-Krise muss er bei der Europawahl punkten, wenn er seine Reformpolitik weiterführen will.
Doch Macrons «Renaissance»-Liste kommt nicht richtig auf Touren. Spitzenkandidatin Nathalie Loiseau, ehemalige Diplomatin und EU-Ministerin im Kabinett von Edouard Philippe, fällt immer wieder durch deplatzierte Bemerkungen auf.
Sie spricht von «positivem Blitzkrieg» oder bezeichnet den 26. Mai als «unseren D-Day». Wohl um zu retten, was zu retten ist, mobilisiert Macron den Regierungschef und zahlreiche Minister, um Loiseau bei den Wahlveranstaltungen im ganzen Land zu unterstützen.
Junger Mann mit alten Ideen
Auf der anderen Seite hütet Marine Le Pen den Spitzenkandidaten des Rassemblement National wie eine Glucke ihr Küken. Der erst 23-jährige Jordan Bardella sympathisierte früh mit rechtspopulistischem Gedankengut und hat für Le Pen schon mit 16 Jahren Plakate geklebt.
Selber Sohn italienischer Einwanderer und in der Banlieue von Seine-Saint-Denis aufgewachsen, wird Bardella nicht müde, den Immigrations-Teufel an die Wand zu malen. Das demografische Gefälle zwischen Afrika und Europa sei eine Bedrohung, eine «entsicherte demografische Zeitbombe».
Kaum inhaltliche Diskussionen
Bereits Mitte April präsentierte das Rassemblement National sein «Manifest für ein Europa der Nationen»: Statt «Frexit» heisst es neu «France first», die rechtsnationale Partei setzt auf Wirtschaftspatriotismus, Öko-Zölle für ausländische Produkte, auf die Wiederherstellung der nationalen Grenzen und null Einwanderung.
En Marche publizierte erst letzte Woche das «Renaissance»-Programm für Europa mit 79 Vorschlägen. Nicht alle sind neu, wie eine gemeinsame Grenzpolizei oder eine europäische Asylbehörde.
Andere Ideen, etwa ein EU-Mindestlohn oder die Finanzierung der Klimawandel-Folgen mit 1000 Milliarden Euro dagegen schon. Doch über Visionen für ein anderes, besseres Europa wird kaum diskutiert. Zu verhaftet sind Emmanuel Macron und Marine Le Pen in ihrem Abwehrkampf.