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Generalstreik in Tunesien «Im schlimmsten Fall droht ein Staatsstreich»

In Tunesien steht alles still – es herrscht Generalstreik. Die rund 700'000 Angestellten des öffentlichen Dienstes demonstrieren damit für höhere Löhne. Zum Streik aufgerufen hat die Gewerkschaft UGTT. Sie will der Regierung die Stirn bieten und bei den Wahlen Ende Jahr möglicherweise selbst antreten. Eine explosive Mischung, wie Maghreb-Spezialist Beat Stauffer darlegt.

Beat Stauffer

freier Journalist, Buchautor

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Beat Stauffer berichtet als freischaffender Journalist für verschiedene Medien aus Nordafrika. Er ist auch als Buchautor, Kursleiter und Referent tätig.

SRF News: Die Staatsangestellten fordern mehr Lohn, weil eine Inflation von mehr als sieben Prozent einen Teil der Löhne auffrisst. Wie gross ist generell die Unzufriedenheit in Tunesien?

Beat Stauffer: Die Unzufriedenheit ist sehr gross – und sie hat mittlerweile alle Schichten der Bevölkerung erfasst. Das ist das grosse Problem: Die Regierung kann praktisch keine Massnahmen ergreifen, um all die Forderungen zu erfüllen. Das würde ihre finanziellen Möglichkeiten völlig überfordern.

Ein grosser Teil der IWF-Milliarden wurden für die Schuldentilgung gebraucht.

2016 erhielt Tunesien 2,4 Milliarden Euro vom IWF zur Schuldentilgung – im Gegenzug für Reformen. Wie weit ist man damit gekommen?

Ähnlich wie in Frankreich herrscht in Tunesien ein grosser Reformstau, der lange zurückreicht – bis in die Zeit von Langzeitdiktator Ben Ali, der 2011 im Zuge des Arabischen Frühlings nach Saudi-Arabien floh. Der Staat musste in den letzten Jahren Unsummen für den Schuldendienst ausgeben, ausserdem ist der Beamten- und Funktionärsapparat mit 700'000 Staatsangestellten teuer. Ein grosser Teil des IWF-Geldes ist so versickert. In Sachen Reformen ist dagegen noch nicht viel passiert.

Demonstranten.
Legende: Generalstreik: Sehr viele Tunesier sind sehr unzufrieden. Keystone

Wie reagiert die Regierung angesichts des Wahltermins von Ende Jahr auf die Proteste?

Sie hat versucht, der Gewerkschaft UGTT so weit als möglich entgegenzukommen. Damit ist sie aber gescheitert. Die legendäre Kompromissbereitschaft der Tunesier scheint verschwunden zu sein, das Land ist tief gespalten. Alle Interessengruppen im Land arbeiten bloss noch für ihre eigenen Ziele. Das in dieser heiklen Situation wichtige nationale Interesse geht dabei vergessen.

Ist die Demokratie in Tunesien mittlerweile genügend entwickelt, damit das Ganze friedlich und demokratisch über die Bühne gehen kann?

Das ist sehr schwierig zu sagen. Manche Beobachter befürchten, dass der Staat den grossen Herausforderungen nicht mehr gewachsen ist und es zu Brüchen kommen könnte. Im schlimmsten Fall drohe sogar ein Staatsstreich. Die tunesische Demokratie ist schwach und immer noch im Aufbau begriffen. Insofern kommt der Generalstreik zum falschen Zeitpunkt.

Welche Rolle könnten in dieser Situation die internationale Gemeinschaft und insbesondere Frankreich spielen?

Man müsste eine zeitliche Erstreckung für die Rückzahlung der Multimilliarden-Kredite ermöglichen und massiv ins Land investieren. Doch zugleich wird Tunesien unter Druck gesetzt, damit die verlangten Reformen endlich durchgeführt werden. Diese Gleichung kann so aber nicht aufgehen. Ein Ausweg aus dieser schwierigen Lage ist derzeit nicht absehbar.

Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.

Tunesien kommt nicht vom Fleck

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Tunesien hat nach dem Sturz von Langzeitmachthaber Zine el-Abidine Ben Ali im Januar 2011 zwar weitreichende demokratische Reformen eingeleitet. Das nordafrikanische Land leidet allerdings unter grossen wirtschaftlichen Problemen. Besonders die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Um den Jahreswechsel hatte es in einigen Regionen Tunesiens Proteste und Ausschreitungen gegeben, nachdem sich ein Journalist aus Protest gegen die wirtschaftliche Lage des Landes selbst angezündet hatte. (dpa)

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