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Geschichte, erzählt mit Lücken Polens Heldenkult lässt keine Kritik zu

Polens Regierung kreiert wieder eine Heldenfigur: Roman Dmowski, Unabhängigkeitskämpfer – und Antisemit. Das hat System.

Es ist das Jahr 1939, und hier wird einer mit Gewicht zu Grabe getragen: In Warschau sind 100'000 Menschen an die Beerdigung von Roman Dmowski gekommen. Das letzte Geleit für einen Mann, der in seiner Jugend gekämpft hatte für Polens Befreiung von Russland, Deutschland und Österreich.

Dmowski war es auch, der nach dem Ersten Weltkrieg in Versailles den Vertrag unterschrieb, der Polen nach über 100 Jahren fremder Herrschaft wieder zu einem unabhängigen Staat machte. Ein Führer und Held der katholischen Nationalisten.

Wir stehen am Sarg dieses grossen Mitbürgers und sehen die Geister der Vergangenheit wieder aufsteigen.

Das sagte damals, 1939, ein offenbar hellsichtiger Nachrichtensprecher.

Roman Dmowski
Legende: Roman Dmowski (1846-1939). imago images

Die Geister der Vergangenheit lässt auch die heutige konservative polnische Regierung wieder aufsteigen: Gerade hat sie das «Institut zur Pflege des nationalen Denkens» gegründet, gepolstert mit umgerechnet mehreren Hunderttausend Franken pro Jahr, gewidmet – ganz besonders – Roman Dmowski. Unterrichtsstoff, Konferenzen, Ausstellungen: Tausende in Polen sollen etwas über Dmowski lernen.

Etwas lernen, aber nicht alles: Roman Dmowski war auch ein glühender Antisemit, einer, der jüdische Unternehmen boykottierte. Ein Historiker sagte es vor einiger Zeit am Radio so: «Das Fundament von Dmowskis Weltbild in späteren Jahren war: Juden und Freimaurer stecken hinter allem.» Juden, so schrieb Dmowski, seien ein Desaster für Polen; mit ihnen, dem ewig fremden Element, könne Polen als Staat nicht überleben. Ukrainer und Weissrussen verachtete er.

Kritik unerwünscht

Das alles scheint man im neuen Dmowski-Institut aber wegzulassen. Und das ist das Problem. Die polnische Regierung fördert ein Weltbild, in dem die Polen immer nur Helden, immer nur die Guten sind, in dem Kritik unerwünscht ist. Und sie treibt sie immer weiter. Seit sie vor fünf Jahren an die Macht kam, hat sie acht Museen oder Institute gegründet, die den uneingeschränkten Heldenmythos verbreiten.

Chef des neuen Instituts wird Historiker Jan Zaryn. Gerade noch sass er für die regierende Partei im polnischen Parlament. «Polnische Eliten wurden dazu erzogen, sich für ihr nationales Erbe zu schämen», sagt er im Fernsehen. Heute sei der Held Dmowski halb vergessen – oder dann werde er in einem völlig falschen Licht dargestellt, so Zaryn.

Beides stimmt nicht. Ernstzunehmende Historiker haben viel über Dmowski geschrieben – aber eben auch Kritisches. Selbst Gegner der heutigen Regierung anerkennen, dass Dmowski wichtig war für Polens Unabhängigkeit, trotz Judenfeindlichkeit.

Polen als Produkt der christlichen Nationalisten

Der polnischen Regierung dürfte es denn auch nicht darum gehen, etwas richtigzustellen. Es geht es ihr stattdessen um Wählerstimmen, Macht, Kontrolle. Der neue Chef des Dmowski-Instituts sagt es so: «Ich wäre glücklich, wenn unser Institut den jungen Leuten zeigen würde, dass der Sinn des Lebens und Polens Existenz vom nationalen und christlichen Denken abhängen – und dass die Jungen dann auch so wählen.» Sprich: seine Partei, die Regierung.

Die Helden, die die polnische konservative Regierung in ihren neuen Gedenkstätten aus dem Grab steigen lässt, sollen zeigen: Das moderne Polen ist vor allem das Werk der christlichen Nationalisten – Andersdenkende haben dort keinen Platz.

Echo der Zeit vom 12.5.2020

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