Sanft nimmt der kleine Faris seinen grossen Bruder an der Hand. Abdulrazak hält sich tastend an ihm fest. Abdulrazak ist blind. Bei einem Luftangriff Anfang Februar hat der kleine Junge sein Augenlicht verloren. Er ist acht, sein Bruder sechs Jahre alt.
«Es war eigentlich ein ruhiger Tag. Es geschah nichts, sie haben nicht gekämpft. Aber dann kam das Flugzeug und warf seine Bombe ab. Ich weiss nicht, was geschah, aber danach konnte ich nichts mehr sehen.»
Abdulrazak wurde zwar operiert, doch die Operation in einem der wenigen noch funktionstüchtigen Spitäler von Idlib ging schief. Der kleine Junge deutet auf sein rechtes Auge: «Mit diesem Auge kann ich Helligkeit erkennen. Mit dem anderen Auge sehe ich gar nichts mehr. Mit dem besseren Auge kann ich Dinge in weiter Ferne erkennen. Aber nur, wenn es hell ist.»
Im letzten Moment gestoppt
Vater Mohammad Deeb nimmt seinen Sohn in die Arme. «Hier in Idlib haben wir weder die Spezialisten noch die nötige Ausrüstung. Um Abdulrazak helfen zu können, müssten wir in die Türkei reisen.»
Deeb hatte die benötigte Ausreisegenehmigung schon in der Tasche. «Doch in dem Moment, in dem wir über die Grenze wollten, haben sie diese wegen des Coronavirus geschlossen.»
Am Grenzübergang Bab el-Hawa ist es gespenstisch ruhig. Zwei Lastwagen stehen in der gleissenden Sonne und warten, bis sie die Grenze passieren dürfen. Die Laster sind leer, die türkischen Chauffeure haben ihre Ware abgeladen, ohne den Abnehmern zu nahe zu kommen.
Bashir Ismael lässt sich hinter seinem ausladenden Schreibtisch nieder. Ismael ist für die Koordination der medizinischen Fälle zuständig. «Vor Corona konnten täglich rund 30 Patienten zur Behandlung in die Türkei ausreisen. Davon waren 13 bis 15 Notfälle. Jeden Tag. Seit die Türkei die Grenze wegen des Virus geschlossen hat, können wir noch maximal zwei bis drei Notfälle hinüberschicken.»
Die «kalten Fälle»
Mitte März meldete die Türkei ihren ersten Covid-Fall. Drei Tage später schloss das Land die Grenzen. Patienten wie der kleine Abdulrazak, die zuvor noch zur kostenlosen Behandlung in die Türkei einreisen konnten, werden nun als nicht-dringende oder auch «kalte Fälle» eingestuft.
Die meisten dieser Behandlungen können nicht hinausgeschoben werden. Zeit ist entscheidend für ihr Leben!
Das sind Patienten, welche zwar eine Behandlung brauchen, deren Leben aber nicht unmittelbar bedroht ist. Bashir Ismael seufzt schwer. Denn sobald jemand als «kalter Fall» eingestuft ist, wird seine Behandlung hinausgeschoben, bis die Grenzen wieder aufgehen. «Dabei können die meisten dieser Behandlungen nicht hinausgeschoben werden. Zeit ist entscheidend für ihr Leben!»
Noch zwei Wochen
Das gilt auch für den 8-jährigen Abdulrazak. Die Ärzte in Idlib haben ihm eine Silikonlösung auf die Augen gelegt, damit er nicht gänzlich erblindet. Doch diese wirkt nur vier Monate. «Seither sind dreieinhalb Monate vergangen. Das heisst, wir haben nur noch 10 bis 15 Tage Zeit, dann muss er operiert werden.» Vater Mohammad schüttelt verzweifelt den Kopf.
Niemand weiss, ob und wann die Türkei wieder medizinische Notfälle aus Idlib einreisen lässt. «Ich will nur über die Grenze. Ich bitte Onkel Erdogan, die Grenze zu öffnen, damit ich in die Türkei einreisen kann. Damit ich operiert werden kann. Damit ich wieder sehen kann», sagt Abdulrazak. Ohne diese Operation, das weiss der kleine Junge, wird auch sein zweites Auge das Tageslicht bald nicht mehr erkennen können.