Zum Inhalt springen

Haiti am Scheideweg «Die Opposition verlangt eine verfassungsgebende Versammlung»

Seit Monaten wird in Haiti gegen die Regierung von Staatspräsident Jovenel Moïse demonstriert. Ihm wird Korruption vorgeworfen. Dazu kommen Inflation, Arbeitslosigkeit, Armut und Gewalt. Kriminelle Banden blockieren Strassen und verlangen Wegzoll oder rauben die Passanten aus. Die Journalistin Sandra Weiss berichtet von ihrem Aufenthalt in Haiti.

Sandra Weiss

Journalistin in Mexiko

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Die gebürtige Deutsche lebt und arbeitet seit 1999 als Journalistin in Lateinamerika. Sie berichtet von dort aus für diverse deutschsprachige Medien.

SRF News: Wie sind Sie in Haiti herumgereist?

Wegen der vielen Strassenblockaden ist es nicht einfach. Aber dank einheimischer Fahrer habe ich es trotzdem geschafft. Den Teil der Reise in Richtung Norden habe ich mit einem Helikopter absolviert. Die Strasse in den Norden ist sehr gefährlich und konstant blockiert. Da sind die meisten Wegelagerer. Ich war dort mit einer humanitären Organisation unterwegs, die Lebensmittel auslieferte.

Laut Berichten der UNO haben viele Menschen kaum genug zum Überleben. Wie haben Sie das erlebt?

Genauso. Der Nordwesten war immer schon die ärmste Region Haitis. Dort sind die Böden sehr karg. Es ist eine abgelegene Region, es gibt kein Strassennetz, man fährt über Holperpisten. Dort hungern die Menschen. Sie sind sehr arm und sehr dünn.

An der Strasse in den Norden sind die meisten Wegelagerer.

Das liegt zum einen an der traditionell schwierigen Lage dort und zum anderen an der politischen Situation. Haiti produziert praktisch nichts, fast alle leben vom Handel. Das war in den letzten Monaten nur sehr schwer möglich, wegen der Strassenblockaden, der Proteste und der Unruhen.

Das Niveau der Aggression in Haiti ist relativ hoch. Woran merkt man das?

Die Bevölkerung hat das Vertrauen in den Präsidenten völlig verloren, aber nicht nur in den Präsidenten, sondern auch in die Institutionen. Bei den Protesten werden regelmässig öffentliche Gebäude angezündet, zum Beispiel auch Museen. Ich habe einen Bekannten gefragt, warum die Haitianer ihr Kulturerbe zerstörten. Er sagte, sie täten dies aus Hass auf Institutionen, die letztlich nicht im Dienste des Volkes stünden. Ein bestimmter Kreis von Haitianern wirft den USA vor, sich in die Politik einzumischen und die korrupte Elite weiterhin zu stützen.

Wie will die Opposition die Situation verbessern?

Das Problem der Opposition in Haiti ist, dass sie völlig zerstritten ist. Aber sie hat es immerhin geschafft, eine gemeinsame Plattform aufzustellen. Die Opposionellen wollen, dass der Präsident abtritt. Sie verlangen weiter einen grossangelegten Anti-Korruptionsprozess. Beim Wiederaufbau nach dem Beben sind viele Gelder verschwunden. Der Oberste Rechnungshof hat dies in einem Bericht offengelegt. Der Präsident und viele Politiker und Unternehmer seien darin verwickelt. Die dritte Forderung ist eine verfassungsgebende Versammlung, die das Land auf ein neues Fundament stellt.

Die aktuelle Krise ist eine von vielen. Glauben die Menschen noch daran, dass es besser wird?

Allen Schichten, die nicht direkt von vom heutigen System profitieren, ist klar, dass sich dieses Land ändern muss. Es gibt viele junge Haitianer, die besser ausgebildet sind als die ältere Generation. Sie haben konkrete Vorstellungen, was sie ändern wollen. Viele von ihnen wurden im Ausland ausgebildet.

Der haitianische Präsident wird ab Januar per Dekret regieren müssen. Das werden die Haitianer bestimmt nicht akzeptieren.

Im Moment sind die Proteste abgeflaut. Glauben Sie, dass sie trotzdem weitergehen?

Im Moment ist Weihnachtspause. Ich nehme an, dass es im Januar wieder mit Demonstrationen losgeht. Bei einem Drittel der Kongressmitglieder läuft das Mandat aus. So ist der Kongress nicht beschlussfähig. Dann muss der Präsident per Dekret regieren und das werden die Haitianer ganz bestimmt nicht akzeptieren.

Das Gespräch führte Christoph Kellenberger.

Meistgelesene Artikel