Die irakische Stadt Mossul erlebt ihren zweiten Winter seit der Befreiung vom IS. Drei Jahre lang war die einst zweitgrösste Stadt des Landes die Hauptstadt des sogenannten «Kalifats» der islamistischen Terror-Organisation. Danach wurde sie von einer Koalition der irakischen Armee, den USA und diversen Milizen befreit.
Die Schlacht um Mossul dauerte fast ein Jahr und hinterliess ein Trümmerfeld, das an Bilder der zerstörten deutschen Stadt Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Noch heute werden Leichen aus den verminten Trümmern geborgen: knapp 3000 waren es alleine seit Anfang November. Trotz allem versuchen die Menschen in Mossul neu anzufangen.
Jede geräumte Strasse bringt Leben zurück
Ein Bagger und vier Schaufeln: das reicht, um Ali und seine Freunde bei Laune zu halten. Die vier Tagelöhner räumen Schutt und Abfall von der Strasse. Sie schaufeln Kindern den Schulweg frei und sorgen dafür, dass sich betagte Menschen wieder auf die Strasse wagen. Das mache ihn glücklich, sagt der junge Familienvater Ali und schaufelt weiter.
Die Angst vor vergrabenen Minen verdrängen sie. Zu gross ist die Freude der Tagelöhner über etwas Einkommen. Ihren Lohn bezahlt allerdings nicht die Regierung, sondern das Hilfswerk «Care International». Dieses kümmert sich um Strassenräumung, Abfallentsorgung, Reparatur der Abwasserentsorgung und eine grundlegende medizinische Versorgung. Eigentlich alles staatliche Aufgaben. Aber damit scheint die Regierung überfordert.
«Ich musste die Bräute des IS schminken»
Läden gibt es in der zerstörten Stadt kaum. Umso mehr fällt ein farbiges Schild auf, das auf einen Kosmetiksalon hinweist. Der Salon verbirgt sich hinter einem Tor voller Einschusslöcher. Das Haus von Haifa. Sie wollte flüchten, als der IS nach Mossul kam. Doch die IS-Kämpfer waren schneller. «Sie nahmen mir alle Dokumente weg, auch den Laptop, und machten meinen Salon zu», erzählt Haifa.
Schminke, Musik und Feste waren während der dreijährigen IS-Herrschaft strikt verboten. Aber wenn IS-Kämpfer heirateten, galt das nicht. Dann liessen sie Haifa aus ihrem Haus holen, um ihre Bräute für die Hochzeit herzurichten. Sie holten sie in Autos mit verdeckten Scheiben ab und fuhren im Zickzack durch die Stadt, so dass sie die Orientierung verlor.
«Die Angst war normal»
Zuhause bei den Kämpfern musste sie die Bräute schminken. Dabei stand sie Todesängste aus. Die Familienmitglieder des IS versuchten sie zu beruhigen: Kosmetiksalons seien zwar verboten – eine Frau daheim zu schminken sei aber erlaubt. Haifa verkrampft ihre Hände, während sie erzählt.
Die Schliessung ihres Salons war für sie eine wirtschaftliche Katastrophe. Um ihre Familie durchzubringen, arbeitete sie heimlich – und zu Spottpreisen – weiter. Immer mit der Angst, dabei vom IS entdeckt zu werden. Diese ständige Angst sei damals normal gewesen, sagt sie, und lacht sogar. Während des Befreiungskriegs gelang ihr die Flucht. Als sie nach drei Monaten zurückkam, war ihr Salon zerstört, aber das Haus stand noch. Jetzt versucht sie mit ihrem Leben weiterzumachen. Die Wiedereröffnung ihres Salons ist ein Anfang.
Erst seit einem Monat Trinkwasser
Ein paar Strassen von Haifas Kosmetiksalon entfernt beginnt die Altstadt von Mossul. Sie liegt noch immer fast komplett in Trümmern. Dreitausend zerstörte Häuser, nur wenige durchgehend befahrbare Strassen und kaum staatliche Dienstleistungen. Erst seit einem Monat gebe es hier sauberes Trinkwasser, sagt Aysan, der vor seinem schwer beschädigten Haus steht.
Aysan ist arbeitslos, wie die meisten hier. Der IS habe seinen Sohn getötet, erzählt er. Und seine Nachbarin Raida ergänzt: getötet hätten sie ihn, weil er sich über die hohen Lebensmittelpreise beklagt habe. Unter der Schreckensherrschaft des IS waren Lebensmittelpreise für viele unbezahlbar. Augenzeugen berichten von Menschen, die deswegen verhungerten. Auch nach der Vertreibung des IS ist Essen in Mossul knapp.
«Ich habe nur Geld für etwas Brot»
Raida zeigt auf ihr staubiges Kleid, das von Sicherheitsnadeln zusammengehalten wird. Nicht nur ihr Kleid ist zusammengeflickt, auch sie selbst: nur dank Notoperationen habe sie ihre Verletzungen überlebt. Und jetzt helfe ihr die Regierung nicht einmal mit dem Nötigsten zum Leben. Es gebe hier fast nichts zu essen, nur etwas Brot – Geld für anderes habe ja niemand hier, klagt sie.
Wie viele Menschen heute in Mossul leben, weiss niemand. Die Sicherheitslage in der Stadt ist auch nach der Befreiung vom IS prekär. Noch immer verschwinden Menschen oder werden ermordet. Mutmassliche Täter sind nicht nur IS-Mitglieder, die in der Stadt geblieben sind, sondern auch schiitische Milizen. Diese unterstützten die irakische Armee im Kampf um Mossul und übernehmen zunehmend die Kontrolle über weite Teile der Stadt.
Die fehlende Sicherheit verhindert die Rückkehr von Vertriebenen. Und wer lange nicht zurückkehren kann, muss damit rechnen, dass eine Rückkehr immer schwieriger wird. Für die Christen zum Beispiel, die fast alle vom IS aus der Stadt vertrieben worden sind. Vorher gehörten sie 1600 Jahre lang zu Mossul.
«Das Schönste, was ich je gesehen habe»
Mit der grossen Not und Zerstörung sind auch die Hilfswerke überfordert. Sie übernehmen Aufgaben, die eigentlich die Regierung erfüllen müsste. Die Hilfswerksmitarbeiterin Doaa Mohammed ist hier in der Altstadt aufgewachsen. Sie weiss genau, wo welche Läden einst waren. Als sie mitten in den Trümmern ein Geschäft sieht, das wieder offen ist, kämpft sie mit den Tränen.
Sie weine fast, weil dies das Schönste sei, was sie seit Monaten gesehen habe. Jeder Laden, der hier aufgehe, gebe den Menschen Hoffnung, dass sie ihre Stadt wiederaufbauen könnten.
Eine andere Wahl als von vorne anzufangen, haben die meisten Menschen in Mossul nicht. Sie haben keine Mittel, um anderswo hinzugehen.