Şanlıurfa, nur 60 Kilometer von der syrischen Grenze, ist eine heilige Stadt für Muslime, Christen und Juden. Der Überlieferung nach soll hier in der antiken mesopotamischen Stadt Abraham herstammen. Die Provinzhauptstadt ist deshalb auch jetzt Mitte Oktober überlaufen von türkischen, arabischen und iranischen Besuchern und Pilgern. Sie alle wollen diese heilige Stätte sehen – ungeachtet der kriegerischen Auseinandersetzungen, die sich unweit an der türkisch-syrischen Grenze abspielen.
Sorge vor ausbleibenden Touristen
Müslüm, 56 Jahre, macht sich Sorgen. Angesichts der unübersichtlichen militärischen Lage könnten die Touristen ausbleiben. Der türkische Kurde verkauft Textilien – im antiken Basar, der mit seinen engen Gassen und immer wieder überdachten Innenhöfen dem berühmten aber leider zerstörten Pendant in Aleppo ähnelt.
«Ich spreche Türkisch, Kurdisch und Arabisch. Diese Vielfalt ist etwas Einzigartiges und doch so typisch für das alte Mesopotamien. Wenn es aber heute nicht Armut, Misstrauen und Feindschaft gäbe, würden wir alle in Frieden leben.»
Über den türkischen Einmarsch will er nichts sagen. Sogar hinter seinen Teppichen hat der in Şanlıurfa geborene Angst, dass jemand ihn wegen seines Gesprächs mit uns denunzieren könnte.
Sicherheit in Syrien noch nicht gegeben
Vorbei am Heiligtum des Abraham gehen wir in das syrische Viertel. Dort treffen wir Maryam, eine Araberin aus Idlib. Die 34-Jährige will sich nicht fotografieren lassen – aus Angst, dass der syrische Geheimdienst sie erkennen könnte. In ihre als Rebellenhochburg bekannte Heimat würde sie zurückkehren – aber nur, wenn die Sicherheit für sie und ihre vier Kinder wieder gewährleistet wäre.
«Ich will vorerst in der Türkei bleiben. Hier fühle ich mich sicher. Hier erhalte ich vom türkischen Staat Unterstützung. Wenn die Militärintervention meiner Heimat wieder Frieden bringt, dann hat sie etwas Gutes.»
Ganz anders sieht das Omar. Der 32-Jährige ist Barbier, der sich kunstvoll mir annimmt. Der Flüchtling aus dem Osten Syriens muss für seine Nichten und Neffen sorgen, sich um Schwägerin und Eltern kümmern. Der Bürgerkrieg in Syrien hat ihn traumatisiert. Denn beide seiner Brüder wurden in den Kriegswirren von der syrischen Armee verhaftet und erschossen. Seit sechs Jahren sucht er nun Schutz und Unterkunft in der Türkei.
«Niemand kann mich mehr nach Syrien zurückverfrachten. Ich will hier in der Türkei bleiben oder, noch besser, weiter nach Europa. In meiner alten Heimat sehe ich keine Zukunft. Dort herrscht zu viel Hass. Das haben die Kämpfe dieser Tage gezeigt.»
Sorge um die Toten auf beiden Seiten
Omar ist bei der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen registriert. Er hofft, dass das UNHCR ihm ein europäisches Land zuweist, in dem er Asyl beantragen kann. Der Vorgang läuft – seit sechs Jahren – aber ohne Ergebnis.
Auf dem Rückweg ins Zentrum treffen wir Emine. Die türkische Hausfrau mit fünf Kindern sympathisiert zwar mit Präsident Erdogan, sorgt sich aber auch um die Toten auf beiden Seiten der Grenze. Die 53-Jährige findet es richtig, dass ein Teil der 300'000 syrischen Flüchtlinge in Şanlıurfa wieder zurück nach Syrien gehen.
Das freie Wort wurde eine Seltenheit
«Die Syrer nehmen uns Türken die wenige Arbeit weg. Die Wirtschaft liegt hier eh schon im Argen. Jetzt mit dem Krieg wird das sicher nicht besser.»
Doch wann und ob der Plan des türkischen Präsidenten überhaupt aufgeht, darüber will Emine mit uns lieber nicht sprechen. Das freie Wort und die freie Kritik sind in der Türkei dieser Tage mehr denn je die Seltenheit.