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Kein Ausschluss Russlands Der Europarat ist beschädigt

Die Lage hat sich zugespitzt, Jahr für Jahr, Schritt für Schritt: Zunächst eignete sich Russland völkerrechtswidrig die ukrainische Halbinsel Krim an.

Deshalb entzog die Parlamentarische Versammlung des Europarats, der Hüter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa, der russischen Delegation das Stimmrecht. Worauf diese den Europarat boykottierte und Russland seine Zahlungen an die Organisation, immerhin gut zehn Prozent des Budgets, stoppte. Nachdem Moskau nun fast zwei Jahre lang nicht mehr zahlte, drohte ihm im Juni, satzungsgemäss, der Ausschluss aus dem Europarat.

Russen erhalten ihr Stimmrecht zurück

Doch dazu kommt es nun nicht. Im letzten Moment gab der Ministerrat des Europarats nach. Gegen heftigen Widerstand der Ukraine und anderer osteuropäischer Mitgliedländer. Die Russen erhalten ihr Stimmrecht zurück und wollen entsprechend ihre Mitgliedsbeiträge wieder zahlen.

Damit setzte sich die Haltung vor allem von Deutschland und Frankreich durch. Und die lautete: Russland muss drinbleiben. Fast um jeden Preis. Zumal um den Preis, dass man die krasse Völkerrechtsverletzung Russlands bei der Annexion zwar nicht gutheisst, aber hinnimmt.

Das Argument: Die Alternative, ein Rauswurf, wäre noch schlechter gewesen. Eine weitere Brücke zwischen Europa und Russland wäre abgebrochen worden. Der Europarat hätte zudem wegen des dauerhaften Wegfalls der russischen Beiträge seinen Gürtel enger, noch enger als bisher schnallen müssen.

Dem Europarat hätte die Erosion gedroht

Und ein zentraler Punkt in den Überlegungen: 145 Millionen Russinnen und Russen hätten nicht mehr an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gelangen und dort ihre Rechte einfordern können.

Was sie zu Zehntausenden taten. Schliesslich wäre nach einem Ausscheiden Russlands sogleich die Frage aufgetaucht: Und die Türkei, und Aserbeidschan, und allenfalls sogar Ungarn, Polen etc. – auch sie sind nicht gerade Musterknaben im Europarat. Müssten konsequenterweise auch sie wegen Verletzungen der Europaratsprinzipien, wiewohl geringerer als Russland, Sanktionen erdulden und bald gehen? Kurz: Dem Europarat hätte die Erosion gedroht.

Realpolitik wichtiger als Prinzipientreue

Der Kniefall gegenüber Russland ist trotzdem unschön. Zum ersten Mal wird eine Sanktion gegen Russland wegen der Krim-Annexion aufgehoben. Das kann der Kreml als Triumph interpretieren und weltweit ausschlachten. Der Europarat, der eigentlich als moralische Instanz gilt, gewichtete mit seiner Entscheidung Realpolitik stärker als Prinzipientreue. Das schadet der Glaubwürdigkeit der siebzigjährigen Organisation.

Jedenfalls geht der Europarat aus der bitteren, langwierigen Russland-Kontroverse beschädigt hervor. Doch das wäre auch passiert bei einem Ausschluss Russlands. Man entschied sich also für dessen Verbleiben. Und schluckte damit die etwas kleinere Kröte.

Fredy Gsteiger

Diplomatischer Korrespondent

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Fredy Gsteiger ist diplomatischer Korrespondent und stellvertretender Chefredaktor bei Radio SRF. Vor seiner Radiotätigkeit war er Auslandredaktor beim «St. Galler Tagblatt», Nahost-Redaktor und Paris-Korrespondent der «Zeit» sowie Chefredaktor der «Weltwoche».

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