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Irak nach dem Sieg über den IS «Kein gutes Omen für einen friedlichen Neubeginn»

Das Terrorkalifat des IS in Mossul hat ein Ende. SRF-Korrespondent Philipp Scholkmann schätzt die Situation ein.

SRF News: Konfessionelle Minderheiten kehren in die Umgebung von Mossul zurück, wie sieht das Zusammenleben zurzeit aus?

Philipp Scholkmann: Alles ist noch sehr zerbrechlich. Die Zerstörung ist auch im Umland von Mossul gross. Ich war zum Beispiel in einem Städtchen ein paar Kilometer östlich von Mossul. Dort leben Angehörige der kleinen Religionsgemeinschaft der Jesiden, die vom IS als angebliche «Teufelsanbeter» verfolgt wurden, deren Männer getötet und deren Frauen und Mädchen von den sunnitischen Extremisten versklavt wurden.

Als die Dschihadisten vor drei Jahren vorrückten, floh die gesamte Bevölkerung Hals über Kopf.

Das Städtchen ist schwer gezeichnet von diesem Dschihadistensturm, aber auch von den Kämpfen der letzten Monate zur Rückeroberung.

Sieg offiziell verkündet

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Der irakische Ministerpräsident Haider al-Abadi hat am Montagabend in einer Fernsehansprache offiziell den Sieg über die Terrormiliz IS in Mossul verkündet. Die Regierungstruppen hätten die Stadt vollständig befreit.

Und doch, erste Familien kehren dorthin zurück, sie bauen ihre jesidischen Tempel wieder auf, die von den Dschihadisten dem Erdboden gleichgemacht wurden. Aber die Herausforderungen sind enorm. Nur noch die Hälfte der Häuser ist intakt, Strom- und Wasserversorgung sind erst ansatzweise wieder hergestellt. Und das Misstrauen gegenüber den ehemaligen Nachbarn ist geblieben. Einigen ihrer arabischen Nachbarn in den umliegenden Dörfern werfen die Jesiden vor, sie hätten profitiert von der Notlage, ihre Häuser geplündert, oder – zumindest am Anfang – den IS sogar offen unterstützt.

Ganz ähnlich tönt es in christlichen Städtchen in der Umgebung, wo die Rückkehr ebenfalls nur sehr zaghaft anläuft. Da sind noch zu viele Rechnungen offen, die politischen Perspektiven noch zu unklar. Das macht den Neubeginn sehr schwer.

Und in Mossul selbst?

In Mossul ist die Zerstörung in der Altstadt unbeschreiblich – das historische Zentrum ist in weiten Teilen ein Trümmerfeld.

In einigen Häuserblocks gibt es bis jetzt noch letzte Gefechte, trotz der Siegesbegeisterung der irakischen Regierung und deren Truppen.

Im westlichen Teil der ehemaligen Handelsmetropole, dem Teil mit der Altstadt, wird es noch sehr viel mehr Zeit brauchen, bis nur schon wieder ein Ansatz von Normalität zurückkommt.

Die Situation auf der östlichen Tigrisseite ist etwas besser. Von dort wurden die Dschihadisten des IS schon Anfang Jahr vertrieben, dorthin ist seither etwas Leben zurückgekehrt. Eine Stadtverwaltung macht sich an die Arbeit, Restaurants und Läden sind wieder geöffnet. Aber die Angst vor dschihadistischen Schläferzellen ist auch im Osten noch gross.

Ich habe mit Flüchtlingen aus Mossul gesprochen, die vor allem wegen dieser Furcht vor neuen Anschlägen noch nicht in ihre Häuser im Osten der Stadt zurückkehren.

Droht durch das Ende des Terrorkalifats des IS eine weitere Eskalation des Konflikts zwischen Schiiten und Sunniten?

Das Risiko ist nicht gebannt. Der IS wird sicher nicht ganz verschwinden. Als Territorialmacht steht die Dschihadistenmiliz vor dem Ende, aber sie dürfte wieder zu dem werden, was sie vorher war, eine sunnitische Terrororganisation, die aus dem Untergrund heraus operiert und versucht, den Irak mit Anschlägen und Kommandoaktionen zu destabilisieren.

Wie viel Rückhalt es dafür gibt, hängt auch davon ab, ob die Regierung in Bagdad fähig oder willens ist, einen überzeugenden Plan für ein versöhnliches Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen vorzulegen. Bis jetzt ist davon kaum etwas erkennbar. Das Problem war ja, dass viele Sunniten sagten, sie fühlten sich benachteiligt gegenüber der schiitischen Mehrheit, welche die Politik und die Sicherheitskräfte Iraks dominiere.

Kein gutes Omen für einen friedlichen Neubeginn nach dem Zusammenbruch des Terrorkalifats von IS.

Von diesem Gefühl der Benachteiligung hat der IS profitiert, es gab zumindest anfangs gewissen Rückhalt in den sunnitisch geprägten Regionen und Städten, wie Mossul.

Nach drei Jahren extremster Gewalt der Dschihadisten, auch gegen viele Sunniten selbst, hat sich das sicher geändert. Aber die schiitisch geprägte Regierung Iraks und ihre Sicherheitskräfte müssen die «Befreiten» von Mossul erst noch für sich gewinnen, sonst droht tatsächlich die nächste Runde konfessioneller Gewalt im Irak.

Auch die Kurden verfolgen ihre eigene Agenda und stellen Anspruch auf Unabhängigkeit. Was bedeutet der Abzug des IS für die Kurden?

Kurdische Unabhängigkeit ist unwahrscheinlich für die absehbare Zukunft. Aber die Kurden wollen ihre Autonomie im Nordirak noch massiv ausweiten. Sie haben grosse Opfer erbracht im Kampf gegen den IS und mehr als eine Million Flüchtlinge aus den zerrütteten arabischen Landesteilen bei sich in der Autonomiezone aufgenommen.

Aber sie haben im Kampf gegen den IS auch ihre eigene Agenda vorangetrieben, haben das Gebiet unter kurdischer Kontrolle massiv ausgeweitet, weit über die eigentliche Autonomiezone hinaus.

Kurdische Truppen stehen nun in Städtchen und Dörfern im Umland von Mossul, die laut irakischer Verfassung sogenannt «umstrittenes» Territorium sind. Sie haben auch die Grossstadt Kirkuk unter ihre Kontrolle gebracht, das Zentrum der nordirakischen Ölproduktion. Die wollen die Kurden nicht mehr hergeben, sagen ihre Politiker. Über die Parteigrenzen hinweg herrscht in dieser Frage Einigkeit. Da sind neue Konflikte mit der Zentralregierung in Bagdad vorprogrammiert.

Hat der Irak überhaupt eine Chance auf eine friedliche Zukunft? Ist es möglich, dass sich die verschiedenen Gruppierungen irgendwann auf politischer aber auch auf zwischenmenschlicher Ebene einigen können?

Ich komme mit einem zwiespältigen Eindruck aus dem Nordirak zurück. Der sunnitische Landesteil hat die Extremerfahrung mit den Dschihadisten hinter sich. Ich habe mit sunnitischen Stammesscheichs geredet, die anfangs auf der Seite des IS waren, die sunnitischen Extremisten unterstützten, weil sie sich davon eine Ermächtigung der sunnitischen Minderheit im Irak versprachen. Die sagen nun: «Wir haben einen enormen Preis dafür bezahlt und nichts erreicht, Zehntausende wurden getötet, Millionen vertrieben, die sunnitischen Städte sind am Nullpunkt.» So etwas dürfe nie wieder vorkommen.

Andererseits ist, wie gesagt, bis jetzt nicht im Ansatz erkennbar, wie der politische Ausgleich herbeigeführt werden sollte. Auch die soziale Ungleichheit und die Korruption der Eliten sind gewaltig.

Und was die Lage noch verkompliziert: Auf der schiitischen Seite sind in der Konfrontation mit den Extremisten des IS ebenfalls konfessionelle Kräfte stark geworden: Schiitische Milizen, die heute so stark sind wie nie zuvor, treten nun zum Teil im tiefsten sunnitischen Stammesgebiet als Ordnungsmacht auf.

Das Gespräch führte Manuela Kosch.

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