Bis zu den Hüften steht Rous Sary neben seinem kleinen Boot im Tonle Sap See. Der 61-jährige drahtige Mann greift mit beiden Händen nach der Fischreuse, die unter der Wasseroberfläche an Stangen befestigt ist. Als er sie hochhebt, ist er enttäuscht: «Das sind nur wenige Fische! Früher haben wir viel mehr gefangen: Schlangenkopffische, Welse, Karpfen.»
Der Tonle Sap See in Kambodscha ist der grösste Süsswassersee in Südostasien. Zudem hat er eine spezielle Eigenschaft: Er hat einen Flutpuls, der wie ein pulsierendes Herz den Mekong mit Wasser speist oder von ihm gespeist wird.
So fliesst in der Trockenzeit Wasser aus dem See über einen Verbindungsfluss in den Mekong. Wenn der Mekong während des Monsuns viel Wasser führt, dann ändert sich die Fliessrichtung des Verbindungsflusses und das Wasser aus dem Mekong füllt den Tonle Sap See und schwemmt Fische, Fischeier und Sedimente in den See.
200 Fischarten bevölkern den See
Ein weltweit einzigartiges System, sagt der US-Amerikaner Taber Hand, der seit gut zwanzig Jahren in Kambodscha lebt und arbeitet und seine Doktorarbeit über das komplexe Ökosystem des Sees geschrieben hat. «Dieser saisonale Flutpuls macht den See zu einem der produktivsten Fischgründe unseres Planeten. Rund 200 verschiedene Fischarten leben im See und jährlich werden hier mehr Fische gefangen, als in allen Süsswasserseen und -flüssen Nordamerikas.»
Doch in diesem und im vergangenen Jahr war alles anders. Der Mekong führte zu wenig Wasser, der Verbindungsfluss zwischen Mekong und See änderte deshalb zum ersten Mal in der Geschichte seine Richtung nicht. Der See wurde nicht gefüllt. Der Pegel des Tonle Sap Sees sank auf ein historisches Tief. Fischer klagten über massive Einbussen beim Fischfang und die kambodschanischen Fischexporte sanken um über 80 Prozent in den ersten neun Monaten dieses Jahres.
Kriegserklärung an den Fluss
Schuld daran ist eine Jahrhunderttrockenheit in den Ländern entlang des Mekong, die bereits im letzten Jahr begann. Doch das sei nur ein Grund, die Hauptschuldigen am ausbleibenden Flutpuls und dem Fehlen der Fische seien die Dämme in China und Laos, glaubt Taber Hand: «Ihre Auswirkungen auf Kambodscha sind wie eine Kriegserklärung.»
11 Dämme hat China seit den 1990er Jahren in seinem Gebiet am Oberlauf des Mekong gebaut, um seine schnell wachsende Industrie mit Strom zu versorgen, Dutzende weitere an den Nebenflüssen. Das sei besorgniserregend, sagt Brian Eyler. Der China- und Südostasien-Experte hat den Mekong von der Quelle bis zum Delta in Vietnam bereist und ein Buch über den Fluss geschrieben. Es trägt den alarmierenden Titel «Die letzten Tage des mächtigen Mekong».
Wildwuchs der Dämme
«Die Dämme in China am Hauptfluss des Mekong gehören zu den grössten der Welt», sagt Eyler. Der Xiaowan Damm beispielsweise ist 300 Meter hoch, so hoch wie der Eiffelturm. Er hält gigantische Wassermengen zurück. Wenn China die Schleusen am Oberlauf öffne, verändere das den Pegel am Unterlauf dramatisch. Die Bauern am Unterlauf würden jedoch nicht informiert und wenn das Wasser auf einmal ansteige, verlören sie ihre Ernte und auch ihre Tiere, die entlang des Flusses weiden. «Oder ihre Traktoren, die sie dort abgestellt haben», erzählt der Südostasien-Experte.
Doch China lässt den Mekong nicht nur plötzlich anschwellen, sondern schliesst auch die Schleusen nach eigenem Gutdünken. So hielt China just in den Monaten der Dürre die Schleusen seiner Dämme geschlossen. Und das in diesem und im vergangenem Jahr, in denen Millionen von Menschen das Wasser des Mekong so dringend gebraucht hätten, um ihre Felder zu bewässern.
Wegen seiner strategischen Position am Oberlauf behält China die Kontrolle über den Fluss. Die Konsequenzen spürten die Länder am Unterlauf, Länder wie Kambodscha, sagt Anoulak Kittkhoun, der Chefstratege der Mekong River Commission, die bei Konflikten um den Mekong vermittelt. «Es gibt immer diese Dynamik zwischen den Ländern am Ober- und am Unterlauf des Mekong.»
Vietnam und Kambodscha seien besorgt wegen der laotischen und chinesischen Dämme und Kraftwerke, sagt Kittkhoun. «Auch unsere Studien zeigen, dass die Auswirkungen von Wasserkraft gewaltig sind. Die Dämme in China haben den Wasserstand und den Fluss selbst bereits verändert.» Mehr Dämme bedeutet, dass es weniger Fische gibt und dass der Fluss weniger Sedimente transportiert.
Die Batterie Südostasiens
Auch das arme Laos baut Dämme. Es hat sich zum Ziel gesetzt zur Batterie Südostasiens zu werden und die Region mit Strom zu versorgen. Über hundert Wasserkraftwerke und Dämme wurden in Laos in den vergangenen Jahren an den Nebenflüssen des Mekong errichtet, sind im Bau oder in Planung. Zwei Wasserkraftwerke wurden inzwischen am Hauptstrom des Mekong fertiggestellt – auch das umstrittene Xayaburi Kraftwerk, das im Dezember 2019 den Betrieb aufnahm.
Umweltorganisationen, aber auch Kambodscha und Vietnam, versuchten den Bau des Kraftwerks zu verhindern. Sie kritisierten, dass das Flusskraftwerk die Wanderung von Fischen gefährden könnte und dass sich die Sedimente ablagern würden, statt weiterzufliessen. Den Bau des Xayaburi Kraftwerks konnten sie trotzdem nicht verhindern. Denn die Länder am Unterlauf können zwar protestieren, aber ein Vetorecht haben sie nicht.
Es wird zu viel Strom produziert
Bis 2030 will Laos jedes Jahr Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von 1000 Megawatt in Betrieb nehmen. Das entspricht fast der Leistung der Pumpspeicherkraftwerkgruppe an der Grimsel. Gebaut werden die Kraftwerke in Laos meist von ausländischen Investoren, auch der grösste Teil des Stroms soll ins Ausland verkauft werden. Doch die Dämme und Kraftwerke sind weit weniger ertragreich, als die Regierung erwartet hatte.
Heute produziere Laos mehr Strom durch Wasserkraft, als es verkaufen könne, sagt der Mekong-Experte Brian Eyler. Doch noch halte die Regierung an ihrer Energiepolitik fest. Wird die Corona-Pandemie etwas an der Energiepolitik von Laos verändern? Vielleicht sagt der Experte. «Denn mit der Pandemie ist die Nachfrage nach Strom gesunken, was bedeutet, dass man weniger Dämme braucht.» Aber auch die Nutzung von billigeren, erneuerbaren Energiequellen, Solar und Wind, könnten eine Veränderung bringen, glaubt Eyler.
Erneuerbare Energiequellen als Ausweg?
Es waren wirtschaftliche Gründe, die zu einem Wildwuchs von Wasserkraftwerken und Dämmen am Mekong und seinen Nebenflüssen führten. Es könnten wirtschaftliche Gründe sein, die diesen Wildwuchs stoppen: So wird etwa die Technologie, um Energie aus erneuerbaren Quellen zu nutzen, immer günstiger. Die teurere Wasserkraft könnte bald nicht mehr gefragt sein. Die Regierungen in Vietnam und Kambodscha haben das erkannt und setzen immer stärker auf erneuerbare Energien. Kambodscha hat zudem in diesem Jahr entschieden, bis 2030 keine Wasserkraftwerke am Mekong mehr zu bauen.
Aber die Abkehr von Wasserkraft hin zu erneuerbaren Energien reiche nicht aus, um den Mekong zu retten, sagt Jake Brunner von der International Union For Conservation of Nature: «Der Fluss kann nur überleben – falls es eine gute und transparente Kooperation zwischen China und den Ländern am Unterlauf des Mekong geben wird.»
Bislang war das nicht der Fall. Doch unlängst hat China versprochen, die Wasserdaten seiner Dämme mit den Ländern am Unterlauf zu teilen. Das ist ein Anfang, um den Mekong und die Menschen, die von ihm abhängig sind, zu retten.