SRF News: Wie präsentiert sich die Lage in Kirkuk, nachdem irakische Soldaten die bislang von den Kurden besetzte Stadt eingenommen haben?
Inga Rogg: Ich war gestern in Kirkuk. Es gab eine grosse Verunsicherung. Die Peschmerga sind massenhaft abgezogen, der ganze Sicherheitsapparat der Kurden trat den Rückzug an. Auch ihre Familien und kurdische Zivilisten sind aus dem Gebiet geflohen. Heute nun normalisierte sich die Lage wieder, und viele Leute sind nach Kirkuk zurückgekehrt.
Wird das Gebiet nun im Wesentlichen von der irakischen Armee kontrolliert?
Ja. Heute haben sich die Peschmerga zudem aus dem gesamten Landstreifen, der von der syrischen bis zur iranischen Grenze reicht, zurückgezogen.
Damit befinden sich nun wohl auch die Ölquellen neu unter irakischer Kontrolle. Stehen die Kurden jetzt ohne Geld da?
Nicht ganz ohne Geld, aber es ist für die Kurden ein herber Verlust. Schon vorher hatte sich die kurdische Regierung in Erbil ja beklagt, nicht über genügend Geld zu verfügen.
Der Wunsch nach einem unabhängigen Kurdenstaat wird sich vorerst nicht erfüllen.
Was bedeutet die erneute Besatzung für die Idee eines unabhängigen Kurdenstaates? Ist das Projekt damit gestorben?
Es ist zumindest auf nahe Sicht tot, auch wenn man nicht davon sprechen kann, dass jetzt kurdisches Gebiet von der irakischen Armee besetzt worden ist, denn die Gebiete waren zwischen Bagdad und den Kurden umstritten. Der irakische Regierungschef Haidar al-Abadi hatte von den irakischen Kräften verlangt, die Zivilisten zu schützen, das ist weitgehend eingehalten worden. Trotzdem ist klar: Der Wunsch nach einem eigenen Kurdenstaat besteht weiterhin, auch wenn dieses Ziel vorerst unerreichbar bleibt.
Kurdenführer Massud Barsani hatte das Unabhängigkeitsreferendum stark vorangetrieben. Wie sehr ist er jetzt angezählt?
Für ihn ist die Entwicklung eine enorme politische Niederlage. Er hatte das Referendum abgehalten, obwohl ihn die internationale Gemeinschaft davor gewarnt hatte. Es stellt sich jetzt die Frage, ob er sich als Kurden-Präsident halten kann.
Viele Kurden betrachten die neuste Entwicklung als Demütigung.
Die Kurden werfen dem Westen und vor allem den USA vor, sie seien im Stich gelassen worden. Ist der Vorwurf berechtigt?
Die USA – und auch die EU – hatten immer klar gemacht, dass sie gegen das Unabhängigkeitsreferendum waren. Mich verwundert, dass diese Haltung bei den Kurden nicht ernst genommen wurde. Wahrscheinlich spielten vor allem innerkurdische Unstimmigkeiten die Hauptrolle, dass die Abstimmung nicht abgesagt worden ist.
Was heisst die neueste Entwicklung für den Kampf gegen den IS? Die Kurden haben im Nordirak für die USA und den Westen ja eine sehr wichtige Rolle gespielt?
Die Kurden haben die Unterstützung des Westens nicht verloren. Sie hatten bloss keine Unterstützung für das Referendum sowie dafür, die umstrittenen Gebiete um Kirkuk, Mossul oder Suleimaniya zu halten. Deshalb haben sie sich jetzt auch kampflos aus diesen Gebieten zurückgezogen. Viele Kurden betrachten diese Entwicklung als Demütigung. Sie machen ihre Politiker dafür verantwortlich, dass diese Gebiete jetzt kampflos aufgegeben wurden. Denn die Mehrheit der Kurden ist dafür, dass diese umstrittenen Gebiete Teil eines eigenständigen Kurdenstaates sein sollten.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.