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Korrespondent in Osteuropa «Ich wollte die dunkle Seite des Mondes entdecken»

Urs Bruderer war vier Jahre lang die Stimme von Radio SRF aus Osteuropa. Im «Tagesgespräch» blickt er zurück.

Von Prag aus bereiste Urs Bruderer in den letzten Jahren die sechs Länder in der östlichen EU, die sich selber zu Mitteleuropa zählen. Er berichtete über politische Auf- und Absteiger, Korruption, Massenproteste und den Alltag der Menschen. Zuvor war er EU-Korrespondent in Brüssel. Von der Machtzentrale wechselte er also in jene Länder, die sich in den letzten Jahren zunehmend von der EU entfernten und Brüssel skeptisch gegenüberstehen. Nun kehrt er mit seiner Familie in die Schweiz zurück, verlässt SRF und zieht zum Online-Magazin «Republik».

Urs Bruderer

Osteuropa-Korrespondent, SRF

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Für SRF berichtet Urs Bruderer seit 2014 aus Osteuropa. Zuvor wirkte er ab 2006 als Produzent der Sendung «Echo der Zeit». 2009 wurde er EU-Korrespondent in Brüssel. Bruderer hat Philosophie und Geschichte studiert.

SRF News: Wie ist Ihnen der Wechsel von Brüssel Richtung Osten in Erinnerung?

Urs Bruderer: Das war sehr spannend. Für die meisten Brüssel-Korrespondenten war das so etwas wie die dunkle Seite des Mondes. Man nahm die ab und zu auftretenden Probleme mit solchen Ländern etwas enerviert zur Kenntnis, weil man davon nicht viel Ahnung hatte, um sich dann wieder auf Berlin, Paris und Brüssel zu konzentrieren. Ich wollte diese dunkle Seite des Mondes bewusst kennenlernen, umso mehr, als diese Länder allmählich deutlich mehr Probleme verursachten als früher und man sie nicht mehr ignorieren konnte. Das machte die Arbeit zusätzlich interessant.

Sie waren von Prag aus viel unterwegs. Hatten Sie an einem Punkt das Gefühl, diesen Teil Europas so richtig erfasst zu haben?

Das ist komplett unmöglich. Die sechs Länder von der Ostsee bis ans Schwarze Meer bilden einen riesigen Raum. Ich habe versucht, viele Regionen abzudecken, war aber längstens nicht überall. Die Menschen sind komplett verschieden, nur schon im Norden und Süden Polens. Das kann man in vier Jahren nicht erschöpfend abbilden. Aber man kann versuchen, eine gewisse Vielfalt in die Berichterstattung hineinzubringen und Fälle mit überregionaler Gültigkeit zu finden.

Orban steht vor Fahnen und winkt
Legende: Seine Politik macht im Osten Schule: Viktor Orban nach seinem Sieg bei den ungarischen Wahlen 2010. Keystone

Bei der Entwicklung hin zu autoritärer Politik denken viele an Ungarn und Orban. Ist er geeignet, diese Entwicklung zu erklären?

Orban hat tatsächlich damit angefangen. Als er 2010 einen grossen Wahlsieg einfuhr und die Zweidrittels-Mehrheit holte, konnte er tun, was er wollte. Er schrieb damals eine Verfassung quasi im Alleingang. Und obwohl er gewisse Grundwerte einer demokratisch-liberalen Gesellschaft beiseite liess, kam er damit in der EU weitgehend durch. Das machte Schule, wie etwa auch Polen illustriert.

Auf der anderen Seite gab es viele Proteste, die Sie etwa in Rumänien eng begleitet haben. Was ist seither passiert?

Proteste gab es überall in all diesen Ländern und in verschiedenen Formen. In Rumänien waren die Demonstrationen für einen Rechtsstaat sehr gross vor anderthalb Jahren und auch erfolgreich. Heute sind sie verebbt und die Regierung steht kurz davor, die Justiz zu unterwerfen. Auch in Polen gingen viele auf die Strasse, als die Regierung die Verfassung aushebeln wollte. Doch auch diese Proteste konnten von der Regierung ausgesessen werden.

Polnische Demonstranten rufen Parolen
Legende: Protest aussitzen: Die polnische Regierung kümmerten die Proteste gegen die politische Einnahme des Justizsystems kaum. Keystone

Warum verlaufen so viele Protestbewegungen wieder im Sand?

Proteste gibt es, wenn sehr viele auch gut gebildete Menschen eine Vorstellung davon haben, in welcher Gesellschaft sie nicht mehr leben wollen. Sie wünschen sich liberale Verhältnisse und wollen nicht mehr daran erinnert werden, wie es vor 1989 war. Mit Strassenprotesten kann man aber die Verhältnisse nicht dauerhaft verändern.

Dazu müssen oppositionelle Kräfte und Parteien über Jahre hinweg aufgebaut werden und dann irgendwann einmal eine Wahl gewinnen. Daran hapert es in den meisten Ländern. Dazu kommt die Unterdrückung der Medien, am extremsten in Ungarn, aber auch in Polen und Bulgarien. Ohne öffentliche Plattform für seine Ideen findet man auch keine Wähler.

Viele Menschen verstehen die Freiheit nach 1989 darin, endlich nach freier Wahl reisen zu können.

Dazu kommt die fehlende Tradition. Viele Menschen wissen gar nicht, das politische Arbeit wichtig sein könnte. Sie verstehen die Freiheit nach 1989 darin, endlich nach freier Wahl reisen zu können. Relativ wenige Menschen engagieren sich politisch, gerade auch bei den Jungen. Das braucht es noch einiges, damit sich eine Demokratie einspielen kann wie in der Schweiz.

Dass dieser Prozess über ein Vierteljahrhundert nach der Wende nicht weiter ist, hat mich immer wieder überrascht. Doch Mentalitäten und Einstellungen ändern sich nur langsam. So gibt vielerorts kein eigentliches Staatsverständnis oder Bürgerbewusstsein. Dagegen besteht eine passive Erwartungshaltung, wobei jeder bestmöglich profitieren will. So werden denn auch in vielen Ländern Politiker nicht abgestraft, obwohl sie sich offensichtlich unrechtmässig an Staats- oder EU-Geldern bedienen.

Sie berichteten immer wieder auch über positive Seiten und Hoffnungen. Was nehmen sie als stimmiges Bild aus dem Osten mit?

Vor allem sehr viele Begegnungen mit Menschen. Als Beispiel etwa jene in einem kleinen Bergdorf in Bulgarien mit einer muslimischen, bulgarisch sprechenden Minderheit. Unglaublich herzliche und offene Menschen erzählten mir dort über ihr Leben. Darunter viele gescheite Leute, die in der Schweiz vermutlich Lehrer oder Historiker geworden wären. Da sie aber dort in den Bergen aufwuchsen, wurden viele von ihnen Bauarbeiter, die häufig und oft als Schwarzarbeiter im Westen Häuser bauen.

Das Gespräch führte Barbara Peter.

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